Stalingrad
werden eingefettet. Das sagte mir unser Arzt, auch einer mit Köpfchen. Er hat zwei Fakultäten in Charkow absolviert. Ich hab sogar sein Diplom gesehen.«
»Wo ist er jetzt, weißt du es nicht?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist er davongekommen. Er ist kein Dummkopf. Wo es nicht nötig ist, da kriecht er nicht hin.« Kalushskij blinzelt uns wieder zu.
Er spricht noch lange, nimmt von Zeit zu Zeit einen Schluck aus der Flasche und leckt seine kurzen Finger ab, die fettig von Butter sind.
Manchmal unterbricht er seine Erzählung, um sich mit den Nachbarwagen herumzuzanken, mit den Fahrern steckengebliebener Autos, die die Durchfahrt versperren, mit Fuhrleuten, die ihre Peitsche verloren oder den Brunnen verfehlt haben. Dies alles geschieht so nebenbei, doch nicht ohne Leidenschaft, ja mit einer gewissen Routine.
Überhaupt sieht er die Lage so an: Die Sache nähert sich anscheinend ihrem Ende. Die ganze Front weicht zurück. Er weiß das ganz genau. Er hat mit einem Major gesprochen, der es von einem Oberst gehört hat. Bis September wollen die Deutschen alles beendet haben. Das ist sehr traurig, aber das ist fast Tatsache. Wenn es uns bei Moskau gelungen war, die Deutschen aufzuhalten, so haben sie sich jetzt sooo vorbereitet … Sie haben eine Luftwaffe, und Luftwaffe bedeutet heutzutage alles … Man muß vollkommen nüchtern
den Geschehnissen ins Auge blicken. Die Hauptsache ist jetzt – über den Don zu gelangen. Man sagt, Weschenskaja sei bereits genommen. Ein Leutnant ist gestern von dort zurückgekommen. Es bleibt nur noch Zymljanskaja, aber auch das wird schwer bombardiert, so erzählt man. Schlimmstenfalls muß man den Wagen im Stich lassen und sich nördlich oder südlich durchschlagen. Unter anderem, aber dies nur unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit, hat er sich gestern in einem Dorf drei Zivilanzüge – Hemden, Hosen und Schuhe – durch Tausch verschafft. Zwei davon kann er mir und Igor abtreten. Wer weiß, was alles passieren kann. Und man muß sein Leben bewahren, die Heimat kann einen noch brauchen. Außerdem hat er noch einen anderen Plan …
Aber es gelingt ihm nicht, uns seinen Plan auseinanderzusetzen. Igor, der neben mir sitzt und schweigend mit dem Messer in der Sohle seines Stiefels herumbohrt, hebt plötzlich den Kopf. Sein abgemagertes, unrasiertes Gesicht wirkt schwarzbraun unter dem Sonnenbrand und einer Staubschicht. Die Feldmütze ist auf den Hinterkopf gerutscht. »Weißt du, Kalushskij, was ich jetzt am liebsten möchte?« »Wareniki 3 mit Sahne?« lacht Kalushskij.
»Nein, nicht Wareniki … sondern dir eine in die Fresse hauen! So ausholen und dir eine reinhauen in deine selbstzufriedene Visage. Hast du verstanden?«
Kalushskij weiß einige Sekunden nicht, wie er darauf reagieren soll, ob er sich entrüsten oder die Worte als Scherz nehmen soll, aber er faßt sich sofort und klopft Igor mit seinem gewohnten Lachen auf das Knie:
»Die Nerven, alles die Nerven. Nachwirkung der Bomben.«
»Scher dich, du weißt schon wohin, mit deinen Bomben und
Nerven …« Geräuschvoll klappt Igor sein Taschenmesser zu und steckt es in die Tasche. »So was nennt sich noch Offizier! Ich weiß nicht, wohin ich vor Scham soll nach all diesem, und du: ›Die Heimat kann einen noch brauchen‹ … Wozu braucht die Heimat so einen Dreck, wie du bist? Solltest dich vor dem Fahrer schämen wegen solcher Reden.«
Der Fahrer tut so, als ob er nichts gehört hätte. Kalushskij springt vom Wagen herunter und läuft fort, um mit einem Chauffeur zu schimpfen. Zu seinem Glück hat ein großer Lastkraftwagen uns den Weg versperrt.
Igor und ich klettern auf einen anderen Wagen.
9
Der allgemeine Strom wird lichter. Ein Teil biegt nach Weschenskaja ab, ein Teil nach Kalatsch, Morosowskaja ausweichend, die übrigen, und das sind die meisten, streben auf Zymljanskaja zu.
Die Steppe ist kahl, quälend flach, mit einzelnen Warzen – Hünengräbern. Trockene, ausgebrannte Schluchten. Gleichförmig wie das Summen der Telegrafendrähte tönt das Zirpen der Heimchen. Hasen springen unter den Füßen hoch. Nach ihnen wird aus Maschinenpistolen und Pistolen geschossen, aber immer daneben. Es riecht nach Wermut, Staub, Dung und Pferdeharn.
Wir fahren, fahren Tag und Nacht und halten nur, um die Pferde zu füttern und unser Mittagessen zu kochen. Deutsche sind nicht zu sehen. Zweimal fliegt ein »Rahmen« über uns hin und wirft Flugblätter ab. Einmal zerbricht ein Rad, und wir reparieren es
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