Stalingrad
dann die Tonne voll Wasser und plätschern lange unter Gelächter in der engen, durch Bretter abgetrennten Zelle. Es ist schwer, dieses Glücksgefühl zu beschreiben.
Zu Mittag kommt Nikolai Nikolajewitsch, ein kleiner glatzköpfiger Mann in einem bastseidenen, vorsintflutlichen Jackett und mit einem außergewöhnlich lebhaften Gesicht. Er trommelt ständig mit den Fingern auf dem Tisch.
Er interessiert sich für alles und fragt uns über die Lage an der Front aus, über unsere Verpflegung, und was sich wohl Churchill denke, weil er noch immer nicht die zweite Front errichtet habe. »Das ist doch eine Schweinerei, nicht wahr.« Und ob nach unserer Meinung die Deutschen bis Stalingrad gelangen würden, und wenn, ob wir Kräfte genug hätten, Stalingrad zu verteidigen. Im Augenblick gingen alle schanzen. Auch er sei schon zweimal gewesen, und ein Hauptmann habe ihm gesagt, daß rings um Stalingrad drei Verteidigungsringe wären, oder, wie er sich ausdrückte, drei »Sperrgürtel«. Das sei doch allerhand. Der Hauptmann habe auf ihn einen soliden Eindruck gemacht: »So einer wird wohl nicht grundlos ›schwatzen‹, wie man jetzt sagt.«
Nach dem Tee zeigt Nikolai Nikolajewitsch uns seine Karte, auf der er mit kleinen Fähnchen die Front markiert hat. Mit einem kleinen Metall-Lineal mißt er den Abstand von Kalatsch und Kotelnikowo bis Stalingrad, seufzt und schüttelt den Kopf. Ihm wollen die letzten Ereignisse nicht gefallen. Er liest sehr aufmerksam die Zeitungen, ist Mitglied des Gewerkschaftsausschusses und bezieht nicht nur das Lokalblatt, sondern auch die Moskauer »Prawda«. Sie liegen bei ihm zusammengefaltet in zwei Stapeln auf dem Schrank, und wenn Marja Kusjminitschna zum Einwickeln von Heringen Papier braucht, so muß sie zu den Nachbarn laufen, denn diese Zeitungen dürfen nicht berührt werden.
Hinterher schlafen wir auf dem Hof im Schatten der Akazien und schützen uns mit einem Handtuch gegen die Fliegen.
Am Abend wollen wir ins Operettentheater gehen. »Das Strumpfband der Borgia«. Wir putzen auf dem Hof unsere Stiefel und sparen unsere Spucke nicht dabei.
Auf der gegenüberliegenden Vortreppe sitzt ein junges Mädchen und trinkt Milch aus einem dicken, geschliffenen Glas. Sie heißt Ljussja und ist Ärztin. Das wissen wir schon alles – Marja Kusjminitschna hat es uns erzählt. Das junge Mädchen hat unglaublich dunkle, wie Perlen glänzende Augen, dunkle Brauen und ganz goldenes, nach Männerart geschnittenes Haar. Sie trägt ein leichtes Baumwollkleidchen, einen Sarafan. Hände und Hals sind bronzebraun gebrannt. Igor stellt sich so hin, daß er sie im Blickfeld hat.
»Gar keine üblen Beinchen, was, Jurka? Und auch sonst …«
Unternehmungslustig spuckt er auf die Bürste.
Das Mädchen trinkt Milch und sieht uns beim Putzen zu. Dann stellt sie das Glas auf die Stufe, geht ins Zimmer und kehrt mit einer Dose Schuhcreme wieder zurück.
»Das ist gute Creme, estnische. Ich glaube, besser als Ihr Speichel«, und hält uns die Dose hin.
Wir danken und nehmen die Creme. Sie ist wirklich besser als Speichel. Die Stiefel glänzen wie neu. Jetzt braucht man sich nicht zu schämen, ins Theater zu gehen. Ob wir ins Theater gehen wollen? – Ja, ins Theater, zum »Strumpfband der Borgia«. Ob sie uns Gesellschaft leisten wolle? – Nein, sie habe die Operette nicht gern, und eine Oper gebe es in Stalingrad nicht. – Wirklich keine? – Nein. – Und sie liebe die Oper? – Ja, besonders »Eugen Onegin«, »La Traviata«, »Pique Dame«. – Igor ist begeistert. Es stellt sich heraus, daß Ljussja eine Musikschule besucht hat – noch vor dem Hochschulstudium – und daß sie ein Klavier besitzt. Die Operette wird bis zum nächstenmal vertagt.
»Kommen Sie doch bitte herein. Mama wird Tee kochen.«
»Mit Vergnügen. Wir sind das alles nicht mehr gewohnt.«
Wir sitzen im Gastzimmer auf einem Samtdiwan mit geschwungenen Beinen und fürchten die ganze Zeit, sie könnten unter uns zusammenbrechen – so zart und zierlich sind sie und wir so grob und ungeschickt. An der Wand hängt Böcklins »Toteninsel«, auf dem Klavier steht eine Beethovenbüste. Ljussja spielt »La Campanella« von Liszt.
Zwei dicke Kerzen schmelzen in den Leuchtern langsam dahin. Der Diwan ist weich, bequem, mit ausgehöhlter Rücklehne. Ich schiebe mir ein mit Perlen besticktes Kissen in den Rücken und strecke die Beine aus.
Ljusjas Haar ist im Nacken sorgfältig verschnitten, und ihre Finger laufen schnell über die
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