Stalingrad
Tasten – wahrscheinlich hat sie in der Musikschule für diese Fertigkeit stets ausgezeichnete Zensuren bekommen. Ich höre »La Campanella«, schaue den Böcklin an, die Beethovenbüste, die aus Uralsteinen geschnitzten Elefanten, die auf dem Büfett hintereinander aufmarschieren, aber irgendwie erscheint mir das alles fremd, weit entfernt, wie von einem Nebelschleier verhüllt.
Wie oft habe ich an der Front von solchen Minuten geträumt: Rings um dich keine Schüsse, keine Explosionen, du sitzt auf einem Sofa, hörst der Musik zu, neben dir ein hübsches Mädchen. Und nun sitze ich auf einem Diwan und höre Musik … Und aus irgendeinem Grund ist es mir unangenehm. Warum? Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß seit dem Augenblick, da wir vom Oskol zurückgegangen sind, nein, später, seit den Scheunen, in meiner Seele etwas Unangenehmes zurückgeblieben ist. Ich bin doch kein Fahnenflüchtiger, kein Feigling, kein Mucker und habe doch das Gefühl, als ob ich dies und das und auch das dritte wäre.
Vor einigen Tagen, es war bei Karpowka, glaube ich, saßen Igor und ich am Wegrand und rauchten. Walega und Sedych bereiteten über einem offenen Feuer das Abendbrot. Eine nagelneue Artillerieeinheit zog an uns vorbei an die Front. Junge lustige Soldaten mit geröteten Gesichtern wurden auf den Protzen im Staub des Wegs gerüttelt und geschüttelt. Sie lachten und machten Witze, und einer von ihnen, vielleicht ein Sergeant, vielleicht auch nur ein Gefreiter, auf einem satten, rötlichen Pferdchen, rief fröhlich mit einer klingenden Stimme wie der eines Vorsängers:
»Nun, meine Herren Soldaten, Sie haben sich aber gut verschanzt! Weder eine Kugel noch eine Granate wird Sie hier treffen …«
Ringsum wieherten alle los, und der Spaßvogel der Batterie warf noch hin:
»Wie wär’s mit einem Samowar und Eingemachtem? …«
Und wieder lachten alle los.
Ich weiß, daß weder er noch die Soldaten uns kränken wollten, aber ich kann nicht sagen, daß mir dieser Spaß besondere Freude bereitet hätte. Walega schimpfte sogar los und murmelte etwas vor sich hin, wie: »Wollen mal sehn, was ihr in zwei Wochen singen werdet …«
Das schrecklichste am Kriege sind nicht die Granaten, nicht die Bomben – daran gewöhnt man sich, das schrecklichste sind Untätigkeit, Ungewißheit, das Fehlen eines bestimmten Zieles. Es ist viel schrecklicher, auf offenem Felde im Schützengraben unter einem Bombenhagel zu liegen, als zum Angriff vorzugehen. Und dabei sind doch im Schützengraben die Todeschancen bedeutend geringer als während des Angriffs, aber beim Angriff gibt es ein Ziel, eine Aufgabe, während man im Graben nur hin und her raten muß, ob einen eine Bombe trifft oder nicht …
Ljussja erhebt sich vom Klavier.
»Kommen Sie, wir wollen Tee trinken. Das Wasser im Samowar kocht sicher schon.«
Der Tisch ist mit einem weißen gestärkten Tischtuch bedeckt. Kristalltellerchen stehen darauf mit dicker Kirschkonfitüre ohne Kerne – meiner Lieblingskonfitüre. Wir trinken Tee aus dünnen Gläsern und wissen nicht, wo wir unsere Hände hintun sollen, die so grob sind und in den Rillen und Kratzern gar nicht mehr sauber zu kriegen; wir fürchten, das Tischtuch zu beschmutzen.
Ljusjas Mutter, eine korpulente Dame mit einer Schildpattbrille und einem hochstehenden Kragen, wie ihn Schulaufseherinnen tragen, legt uns Eingemachtes auf und seufzt:
»Essen Sie, essen Sie. An der Front werden Sie nicht so verwöhnt. An der Front ist es schlecht, ich weiß es. Mein Mann hat am vorigen Krieg teilgenommen und mir davon erzählt.« Und sie seufzt wieder: »Unglückliche Generation, unglückliche Generation …«
Wir lehnen das dritte Glas Tee dankend ab, sitzen anstandshalber noch fünf Minuten und verabschieden uns dann.
»Kommen Sie wieder, meine Lieben, kommen Sie wieder. Es wird uns immer eine Freude sein.«
Wir liegen auf dem Hof unter den staubigen Akazien und können lange nicht einschlafen. Neben mir schläft Sedych. Er schmatzt im Schlaf und langt mit der Hand zu mir her über. Igor dreht sich von einer Seite auf die andere.
»Schläfst du noch nicht, Jurka?«
»Nein.«
»Woran denkst du?«
»An nichts …«
Igor sucht in der Dunkelheit nach Tabak.
»Hast du was zu rauchen?«
»Guck im Stiefel nach, im Beutelchen.«
Igor sucht im Stiefel, findet das Beutelchen und dreht sich eine Zigarette.
»Ich hab es satt, Jurka.«
»Was?«
»Dieses ewige Umherirren. Es ist wie ein Blümchen im Eisloch …«
»Nun, morgen ist
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