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Stalingrad

Stalingrad

Titel: Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Nekrassow
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von der Luft aus. Wir stecken die Köpfe aus dem Graben und schauen zu. Die Späne fallen nur so, die Späne – das sind zehn Tonnen schwere Eisenbalken, Träger, Drehbänke, Kessel … Den dritten Tag schon schwebt eine orangegoldene Staubwolke über dem Werk. Wenn der Nordwind weht, legt sich diese Wolke auf uns, und dann jagen wir alle Soldaten aus den Unterständen heraus, weil die deutsche Frontlinie nicht zu sehen ist und diese Hundesöhne bei der Gelegenheit auch uns angreifen könnten.
    Aber im allgemeinen ist es ruhig, nur die Granatwerfer schießen und unsere Artillerie vom anderen Ufer her. Wir sitzen neben unseren Unterständen, rauchen, schimpfen auf die Deutschen, auf die Luftwaffe und diejenigen, die sie ausgedacht haben. – »Ich möchte diese Erfinder, diese Wrights, in den Nachbargraben setzen – wäre interessant zu hören, was sie da sagen würden.« – Und wir ergehen uns in Vermutungen, wann der letzte Fabrikschlot vom »Roten Oktober« zusammenstürzen wird. Vorgestern waren es sechs, gestern drei, heute ist nur noch einer übrig; durchlöchert, mit abgeschlagener Spitze steht er da und stürzt nicht ein, trotz allem.
    So vergeht der September.
    Der Oktober kommt.
    2
    Ich werde von »Marmor« telefonisch zum »Einunddreißigsten« befohlen. Das ist der Regimentskommandeur, Major Borodin. Ich habe ihn noch nicht gesehen. Er ist am Ufer, beim Stab. Bei der Landung hat ihm eine Kanone den Fuß zerquetscht, und in der vordersten Linie ist er noch nicht gewesen.
    Ich weiß nur, daß er eine tiefe, volle Stimme hat und daß er die Deutschen – Gott weiß warum – »Türken« nennt. »Halte stand, Kershenzew, halte stand«, dröhnt es durchs Telefon. »Überlaß das Werk nicht den Türken. Streng dich an, aber halte es.« Und ich strenge mich aus allen Kräften an und halte, halte, halte. Manchmal verstehe ich selbst nicht, wie ich mich noch halte – mit jedem Tag werden es immer weniger Leute.
    Aber jetzt haben wir es hinter uns. Den dritten Tag schon ruhen wir uns aus. Sogar die Stiefel ziehen wir aus über Nacht … Bloß auf wie lange?
    Doch wozu raten? Ich nehme Walega mit und gehe zum Ufer.
    In einem Unterstand, der winzig ist wie ein Hühnerstall, haust der Major. Er ist nicht mehr jung, hat graue Schläfen und ein gutmütiges, väterliches Aussehen. An einem Fuß trägt er einen Stiefel, am anderen einen Gummischuh; er trinkt Tee und ißt Brot mit Knoblauch dazu. Dabei ächzt er. Solche Leute lieben Kinder und werden von ihnen wiedergeliebt. Die Kinder geben ihnen keine Ruhe, lassen sich von ihnen auf den Knien schaukeln.
    Der Major hört mir aufmerksam zu und schlürft seinen Tee aus einer großen, bemalten Tasse. Mit dem gesunden Fuß schiebt er den neben ihm stehenden Stuhl beiseite. Er streckt mir seine große, weiche Hand entgegen.
    »Ach, so siehst du aus! Und ich habe – weiß nicht, war um – gedacht, du wärest groß, breitschultrig, mit massigem Kinn.« Seine Stimme ist gar nicht so rollend und schwerfällig wie am Telefon. »Möchtest du Tee?«
    Ich habe nichts dagegen, habe schon lange keinen richtigen Tee getrunken.
    Die Ordonnanz bringt die Teekanne und eine Tasse, eine ebenso große und bunte. Mit einem Taschenmesser schneidet er eine Zitronenscheibe ab. Das Wasser läuft mir im Munde zusammen. Der Major blinzelt mir mit seinen tiefliegenden blauen Augen zu.
    »Siehst du, wie wir leben? Nicht so wie ihr in der Vordersten. Können mit Zitrone aufwarten.«
    Einige Zeit trinken wir schweigend Tee und knabbern am Zucker. Dann stülpt der Major die Tasse um, legt darauf ein übriggebliebenes winziges Stückchen Zucker, schiebt sie beiseite und fegt sorgfältig alle Krümchen vom Tisch.
    »Nun, wie steht es denn bei dir dort, Bataillonskommandeur?«
    »Es geht, Genosse Major, vorläufig halten wir uns …«
    »Vorläufig?«
    »Vorläufig.«
    »Wie lange, glaubst du, wird dieses ›Vorläufig‹ dauern?«
    Seine Stimme hat plötzlich einen anderen Tonfall bekommen, nicht besonders väterlich mehr.
    »Solange Menschen und Munition da sind, denke ich, werden wir uns halten.«
    »›Denke ich‹, ›vorläufig‹ … Das sind keine guten Worte. Nicht für einen Soldaten … Kennst du die Geschichte von dem Vogel, der zuviel gedacht hat?«
    »Von dem Truthahn, nicht?«
    »Eben, eben, von dem Truthahn«, und er lacht mit den Augenwinkeln. »Rauchst du? Rauch! Das ist eine gute Sorte, ›Gardetabak‹, glaube ich.«
    Er schiebt das auf dem Tisch liegende Päckchen näher heran und

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