Stalins Geist
liegen, haben den Befehl >Keinen Schritt zurück!< mit ihrem Leben bezahlt. Die Frage ist: Wer kämpft heute so entschlossen für Russland?«
Jedes seiner Worte wurde von dem Fernsehteam aufgezeichnet, das auch bei dem Schachturnier dabei gewesen war. Arkadi erinnerte sich, dass die junge, fröhliche Moderatorin Lydia Soundso hieß. Bruchstücke jenes Tages stellten sich wieder ein, aber er erinnerte sich nicht, wie auf ihn geschossen worden war. Mit ihrem Regenmantel und ihrem ungetrübten Lächeln erinnerte Lydia ihn an eine zellophanverpackte Puppe. Schenja betrachtete gebannt ein verkohltes und verbogenes Schachbrett mit Zinnfiguren. Eva war nirgends zu sehen.
Ein Besucherzelt mit Brandy, Käsewürfeln und Pistazien stand für die Fernsehleute bereit. Pacheco winkte Arkadi und Schenja herein.
»Es ist eine höllische Kombination - Stalins Geistererscheinung und eine neue Nazi-Gräueltat. Solche Gelegenheiten bieten sich nicht jeden Tag«, sagte Pacheco. Er und Wiley trugen ebenfalls Tarnanzüge, aber durch ihre weißen, unverschmutzten Hände hoben sie sich von den anderen ab.
»Darf ich?« Arkadi nahm einen Zahnstocher aus emem Glas und spießte ein Stück Käse auf.
»Nur zu.«
»Danke.« Arkadi stellte ihnen Schenja vor und gab ihm eine Handvoll Käsewürfel.
»Das ist ein kleiner Knüller, den wir hier haben«, sagte Wiley. »Ein Event am Vorabend der Wahl, mit Isakow als Hauptperson. Es kann zu einem echten Umsturz kommen. Vielleicht ist Isakow wirklich das Wahre.«
»Na ja, er ist der einzige Kandidat, der die Zustimmung der Lebenden und der Toten hat. Ich glaube nicht, dass Sie etwas Besseres hinkriegen«, sagte Arkadi. »Allerdings gibt es da noch ein paar ungeklärte Fragen, den einen oder anderen Mord.«
»Diesen Verdacht scheinen aber nur Sie zu haben«, sagte Wiley. »Wie auch immer - ein Image der Stärke ist kein Problem. Schwäche ist ein Problem. Ein Massengrab ist das perfekte Beispiel für das, was passiert, wenn man eine Bedrohung ignoriert. »
»Und ein guter Fernsehauftritt?«
»Er lernt«, sagte Pacheco.
Arkadi sah sich um. »Wo ist Urman?«
»Wer weiß?«, erwiderte Pacheco. »Urman ist wie ein Dschinn.
Ich glaube, er versteckt sich in einer Wunderlampe.«
»Er ist impulsiv«, sagte Wiley. »Er könnte mittelfristig zu einer Belastung werden.«
Sie dachten voraus. Isakow hatte wirklich eine Chance, dachte Arkadi.
»Wird Zeit, den Kuchen anzuschneiden«, sagte Pacheco.
Überall wurde die Arbeit eingestellt, als Ausgräber mit Metalldetektoren quer über das Feld auf die Kiefern zugingen. Die Männer bewegten sich so langsam wie Pilzsucher, und Arkadi hörte, wie einer von ihnen immer wieder murmelte: » Wenn hier ein Schatz verborgen ist, möge der Teufel ihn zurückgeben, ohne mich zu beschämen, der ich ein Diener Gottes bin. Wenn hier ein Schatz verborgen ist … » Überall da, wo ihre Nadeln ausschlugen oder es in ihrem Kopfhörer piepste, pflanzten die Männer ein rotes Plastikfähnchen an einem Draht.
Schenja schlängelte sich zwischen den Grabenden hindurch zu Arkadi und zeigte ihm die zinnernen Schachfiguren.
» Tut mir leid«, sagte Arkadi, »aber die musst du zurückbringen.«
» Nikolai hat gesagt, ich darf sie behalten.«
»Kennst du ihn?«, fragte Arkadi.
»Er ist Evas Freund aus Moskau. Nikolai ist berühmt. Und er ist auch mein Freund.«
Isakow winkte Schenja zu, und dem Jungen schwoll die Brust. Der Polizist wuchs in seine Rolle als Medienheld hinein. Lydia rückte zusammen mit einer Kamera an, um ihn zu interviewen.
»Was erwarten Sie hier zu finden?«, fragte sie Isakow.
» Wir werden russische Kriegsgefangene finden, die von ihren deutschen Bewachern abgeschlachtet wurden, als im Dezember einundvierzig die große Gegenoffensive begann.«
»Wird dann der Geist Stalins durch das Land gehen?«
» Dazu kann ich nichts sagen. Was durch das Land gehen wird, ist der Geist des Patriotismus. Die Helden, die hier brutal ermordet und begraben wurden, symbolisieren das Opfer, das Millionen von Russen gebracht haben.«
Als die Ausgräber mit ihren Minensuchgeräten wieder zwischen den Bäumen hervorkamen, hatten sie keine roten Fähnchen mehr übrig. Einer balancierte einen langnasigen Schädel auf der Schulter, der aussah wie ein Stück Treibholz.
»Ein Elch!«, rief er. »Das ganze Gerippe liegt da drin.«
»Unser erster Fund.« Lydia war sofort aus dem Häuschen. »Von einem Jäger erlegt?«
Der Mann ließ den Elchschädel zu Boden gleiten. Die
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