Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
Klinge.
    Schließlich meldete er sich. »Hallo?«
    »Schenja. Ich hab den Zug genommen. Ich bin hier.«
     
    Dreiundzwanzig
    Die russischen Toten trugen manchmal Kunststoffröhrchen mit einem zusammengerollten Zettel bei sich, auf dem Name, Dienstgrad und Blutgruppe standen, aber davon abgesehen hatte die Natur alles außer ihren Knochen verdaut, und über ihre Identität konnte man nur Vermutungen anstellen. Schädel, die wahrscheinlich Russen gehörten, wurden in den Gräben gestapelt, und die deutschen Überreste kamen auf einen Haufen in der Mitte.
    Die Trophäen des ersten Tages wurden so ehrfürchtig zur Schau gestellt, als wären es heilige Reliquien. Auf Tischen häufte sich das Strandgut des Krieges: Messinghülsen, Maschinengewehrgurte, Aluminium- Feldflaschen, verkrustete Bajonette, Essgeschirre, Leutnantsstreifen, eine zerdrückte Trompete und verrostete, halbierte Gewehre.
    Schenja schleppte einen schweren Rucksack mit seinem Schachbrett, Kleidern und Gummistiefeln, in denen er in den Brosno-See waten wollte. Arkadi hatte ihn nur mitgenommen, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Würde er Schenja in den Zug nach Moskau setzen, nähme der Junge den nächsten Zug zurück nach Twer. Bisher schien Schenja die Graberei einen Umweg wert zu sein; fasziniert blieb er vor jedem Schaustück stehen, und das Ungeheuer vom Brosno-See war vorübergehend vergessen. Er schob den Finger durch ein Einschussloch in einem Stahlhelm und warf Arkadi einen verstohlenen Blick zu.
    Von den Trupps, die schon am Tag zuvor mit dem Graben angefangen hatten, war ein Netzwerk von Bunkern freigelegt worden, zwei Meter tief und fünfzig Meter lang, und sie hatten darauf geachtet, dass menschliche Überreste intakt blieben und keine Füße oder Finger verloren gingen. Zwei Skelette wurden eng umschlugen gefunden; eins hielt einen Dolch, das andere ein Bajonett in der Hand. Ein Zelt mit hochgerollter Eingangsklappe wurde für pathologische Untersuchungen bereitgemacht.
    All das geschah, bevor der Boden unter den Kiefern geöffnet wurde. Das Gelände war durch ein rotes Band abgesperrt, dreißig Meter weit vom Lager entfernt. Allgemein herrschte feierliche Aufregung, und es fiel genug Schnee, um dem Tag ein verheißungsvolles Funkeln zu geben.
    Der Große Rudi zupfte Arkadi am Ärmel. Der alte Mann hatte seine Orden poliert und zu Ehren dieses Tages ein mottenzerfressenes Infanterieschiffchen aufgesetzt.
    »Mein Enkel Rudi hat ihnen gesagt, wo sie suchen sollen, aber sie bringen ihn nicht ins Fernsehen.«
    »Das ist alles nur Scheiß.« Rudi erschien auf der anderen Seite. Als modischen Touch trug er eine kugelsichere Weste. »Das sind Amateure, und die stören sich an einem Profi.«
    »Ich dachte, Sie wären ein Roter Ausgräber.«
    »Sehe ich aus wie ein hirnloses Arschloch, das hier kostenlos Leichen ausbuddelt? Wenn sie zwischen den Minen herumspielen wollen, sollen sie es nur tun.«
    »Sie mögen keine Minen.«
    »Sie sind so … ich weiß nicht mal ein Wort dafür.«
    »Pervers«, schlug Arkadi vor.
    »Ja, das ist das richtige Wort. Oder ein Hirnfick. Eine Landmine verkrüppelt dich genauso gern, wie sie dich umbringt. Lieber noch. Wenn du siehst, wie dein Kumpel in die Luft fliegt und ohne Bein schreiend wieder herunterkommt, guckst du nicht mehr nach Stolperdrähten. Du rennst hin, um zu helfen, und löst weitere Minen aus und verkrüppelst noch mehr Männer. Und davor weglaufen kannst du auch nicht.« Rudi schob seine Weste und sein Hemd hoch und entblößte seinen Rücken, der in vielen Farben schillerte.
    »Der deutsche Löffel, den Sie gefunden haben … » »Ist schon im Internet, vielen Dank.«
    »Hast du Stalin gesehen?«, fragte der Große Rudi und sah Schenja an.
    »Der, von dem die Skinheads reden? Ich dachte, der ist tot.«
    Der Große Rudi tätschelte Schenjas Kopf. »Das war er. Jetzt ist er wieder da.«
    Nikolai Isakow erschien im Tarnanzug mit dem Tigerkopf-Emblem und dem roten Stern der Roten Ausgräber auf den Schulterklappen. Er hielt keine Rede, sondern erzählte Geschichten von gewonnenen und verlorenen Schlachten. Im Krieg gegen den Terror müssten Opfer gebracht werden. Aber Opfer von wem?
    »Hat Mütterchen Russland ihre Kinder im Stich gelassen?
    Oder sind wir in die Irre geführt worden, in die Irre geführt von einer superreichen Elite, die so arm an geistigen Werten ist, dass sie die Münzen von den Augen unserer toten Helden stehlen würde? Die Männer, deren Überreste auf den Feldern um uns herum

Weitere Kostenlose Bücher