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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Fünftens, die Zähne der Opfer waren allgemein in einem guten Pflegezustand und enthielten keine deutschen Amalgamfüllungen.
    Sechstens, ein Skelett trug eine Beinschiene. Ich konnte den Rost von der Plakette des Herstellers entfernen und fand eine Warschauer Adresse. Unter den Objekten, die in der Erde der Umgebung gefunden waren, befanden sich ein silbernes Medaillon, das vielleicht ursprünglich in einer Körperöffnung verborgen gewesen und mit einer Gravur romantischen Inhalts in polnischer Sprache versehen war, eine Juwelierslupe mit dem eingravierten Namen eines Briefmarkenhändlers in Krakau, ein Pillen döschen mit einer Abbildung des Tatra-Gebirges auf dem Deckel sowie polnische Münzen aus der Vorkriegszeit.
    Alles in allem verfügen wir noch nicht über hinreichende Informationen, um endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen, aber über zahlreiche Hinweise darauf, dass es sich bei den Opfern um Polen handelt … »
    Die Nostalgie verflog, und Amnesie machte sich breit. Die Leute vergaßen gern, dass Stalin, als er und Hitler Polen unter sich aufteilten, vorsichtshalber zwanzigtausend Polen hatte hinrichten lassen - Armeeoffiziere, Polizisten, Schriftsteller, jeden, der eine politische oder militärische Opposition hätte bilden können. Mindestens die Hälfte von ihnen war in Twer ermordet worden. Hier unter den Bäumen begraben ruhte die Creme der polnischen Gesellschaft.
    Die Ausgräber waren ernüchtert und ratlos. Das war nicht das Ergebnis, das die Leute erwartet hatten, nicht der Lorbeerkranz für eine erfüllte Mission, nicht das verbindende Erlebnis, das sie geplant hatten. Das hier war eindeutig ein Schuss in den Ofen. Jemand hatte sie an den falschen Platz geschickt, und Rudi Rudenko, der Schwarze Ausgräber, der sogenannte Profi, war plötzlich verschwunden. Wenn der Große Rudi noch einmal erzählte, er sehe Stalin, würde jemand ihm eins mit der Schaufel überziehen.
    Sofia Andrejewna richtete sich auf und fragte: »Haben Sie da hinten mich auch gehört? War es laut genug für Sie? Die Opfer sind Polen, auf Befehl Stalins umgebracht und hier verscharrt. Haben Sie das verstanden?«
    Die Anführer der Trupps versammelten sich unter einem Regenschirm. Verstanden? Sie hatten verstanden, dass diese Ärztin eine dreckige polnische Hure war. Sie hätten darauf achten sollen, dass sie eine Russin bekamen. Außerdem wussten sie, dass Camping im Regen keinen Spaß machte. Kinder in Tarnanzügen schnieften. Sie hatten dem Regen den ganzen Tag widerstanden, und jetzt waren sie bis auf die Haut durchnässt; es war ein kalter Abend, und es wurde immer kälter, und was der Arzt jetzt verordnete, waren ein Chili-Wodka und ein heißes Bad. Aber nicht diese Ärztin. Eine russische Ärztin. Ein Donnerschlag brachte die Entscheidung. Sie brachen das Lager ab.
    In einem Gewirr von Taschenlampenstrahlen sanken die Zelte in sich zusammen, die Gräbertrupps rollten die Segeltuchplanen aus den Gräben zusammen, und Jungen stopften Wehrmachtshelme in Kopfkissenbezüge. Sperrige Gegenstände wie Metalldetektoren, Kühltaschen und Grills wurden unter lautem Fluchen zu den Fahrzeugen geschafft und ein zweites Mal verflucht, als ringsum ein Gewimmel von Autos entstand, die allesamt versuchten, quer über die ausgefahrenen Rillen eines einspurigen Feldwegs zu wenden. Der Donner und der Rauch der Lagerfeuer ließen das Ganze aussehen wie einen Rückzug unter Beschuss.
    Jura fuhr mit dem Fernsehwagen rückwärts an das Pathologiezelt heran. Lydia sprang hinein und schüttelte ihr Haar. Ein Mercedes rollte gemächlich auf Wiley und Pacheco zu. »Das war’s? Sie steigen aus?«, fragte Arkadi.
    »Der Scheißkerl hat gesagt, er hat so was befürchtet«, erklärte Wiley. »Er wusste was.«
    »Wer?«
    »Inspektor Nikolai Isakow, unser Kandidat. Er sagt, er hat seit Jahren darauf gewartet.«
    »Worauf?«
    »Irgendetwas mit seinem Vater. Glauben Sie mir, es ist nicht mehr wichtig.«
    »Niemand wird senden, was wir eben gesehen haben«, sagte Pacheco. »Eine russische Gräueltat? Eher hängen sie uns an den Füßen auf.«
    »Grüßen Sie Nikolai von uns«, sagte Wiley.
    »Wir hatten viel Spaß«, sagte Pacheco. »Wenn Stalin auftaucht, sagen Sie ihm auch einen schönen Gruß von mir.«
    Schenjas nasses Haar klebte an der Stirn. Er lehnte es ab, seine Kapuze aufzusetzen, ganz gleich, was Arkadi sagte. Zusammen halfen sie Sofia Andrejewna, ein Skelett in einen Leichensack zu packen. Sie lachte und weinte gleichzeitig.
    »Haben Sie

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