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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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gesehen, wie sie gerannt sind? Puff, ist das mächtige Lager verschwunden. Alles ins Auto gestopft, und ich hoffe, da ist jemandem übel. Wie schade. Sie kommen her, um die Vergangenheit zu glorifizieren, und die Vergangenheit serviert ihnen die falschen Opfer. An manchen Tagen verfluche ich Gott, weil er mich so lange hat leben lassen, aber heute war es das wert. Jeder hat seine Fantasien. Professor Golowanow träumt davon, ein schöner Franzose zu sein. Ich träume davon, eine junge Polin zu sein, eine Medizinstudentin.«
    Der Regen wurde stärker. Arkadi musste fast schreien, um gehört zu werden.
    »Haben Sie eine Rückfahrgelegenheit in die Stadt?«
    »Ich habe mir ein Auto geliehen, vielen Dank. Ich werde noch ein Weilchen hier bei meinen Landsleuten sitzen bleiben. Ich habe einen Klappstuhl. Ich habe Zigaretten. Ich habe sogar … » Sie ließ ihn eine silberne Taschenflasche sehen. »Für den Fall, dass es kalt wird.«
    »Der Feldweg wird bald völlig aufgeweicht sein. Warten Sie nicht zu lange.«
    »Der Regen wird zu Schnee werden. Schnee ist mir lieber; er hat mehr Schwung.«
    »Wo ist Isakow?«
    »Ich weiß es nicht. Sein Freund ist wieder in das Kiefernwäldchen zurückgegangen, um weitere Tote auszugraben. Er behauptet, da seien auch russische Überreste, und sie hätten alle nicht tief genug oder an den falschen Stellen gegraben.«
    »Ich wette, er hat recht«, sagte Schenja. »Marat ist Soldat, er sollte es wissen. Ich weiß nicht, warum wir ihm nicht helfen.«
    »Im Dunkeln zwischen Minen herumzustolpern, das ist keine gute Idee«, sagte Arkadi.
    »Wenn du Angst hast, selbst zu graben, könntest du jemandem die Taschenlampe halten. Ich hab eine in meinem Rucksack.«
    »Du bist wirklich auf alles vorbereitet.«
    »Jemand muss es ja sein.«
    »Nein. Wir fahren nach Hause. Wir fahren heute Abend nach Moskau.«
    Arkadi hatte das Gefühl, es sei schon seit Tagen Nacht.
    Nichts hatte sich so entwickelt, wie er es erwartet hatte. Statt Eva zu gewinnen, hatte er sie verloren. Und in Twer würde er Marat und Isakow niemals entrinnen.
    »Ich fahre mit Nikolai zum Brosno-See«, sagte Schenja. »Und dann zum Schwanensee. »
    »Schwanensee? Das Ballett?«
    »Eine Sage aus dieser Gegend«, sagte Sofia Andrejewna. »Ein Zufluchtsort, den es nicht gibt, für Schwäne, die es nicht gibt.«
    »Schwäne, Monster, weinende Jungfrauen. Und Drachen.«
    »Bedaure. Keine Drachen«, sagte Sofia Andrejewna.
    »Sie haben gesagt, da wären Drachen, als ich die Wohnung genommen habe.«
    »Damit Sie die Schuhe ausziehen, ja. Auf einen alten Drachen tritt man behutsam.«
    Arkadi brauchte einen Augenblick. »Es ist ein Teppich.« Ein Schatten bewegte sich über den Lagerplatz und schwebte über Einwickelpapieren und leeren Flaschen, die beim hastigen Abzug der Ausgräber zurückgeblieben waren. Als die Gestalt näher kam, wurde sie zu einem schwarz glänzenden Geist, der sich im Regen blähte und flatterte. Arkadi wartete auf Stalins buschigen Schnurrbart, den Mantel, die gelben Augen. Stattdessen war es der Große Rudi in einem Plastiksack mit Löchern für Kopf und Arme. Er trug seine Mütze, und Rudi folgte ihm mit einer kastenförmigen Lampe, wie ein Autoschlosser sie auf einen Kotflügel stellte. Sie war abgeschaltet.
    »Großvater sucht immer noch Stalin. Er ist in seiner eigenen Welt.«
    Sofia Andrejewna gewährte dem Großen Rudi einen Schluck Brandy aus dem Schraubdeckel ihrer Taschenflasche. »Ich will ihn nicht morgen früh auf dem Seziertisch liegen sehen.«
    »Gibt’s auch Wodka?«, erkundigte sich der Große Rudi. »Ich glaube, er ist wieder in unserer Welt.« Sie sah Rudi an. »Ich habe Sie bemerkt, als ich die Untersuchungsergebnisse vortrug. Sie sind mir aufgefallen.«
    »Danke.« Rudi fühlte sich geschmeichelt. »Sie sind ein Schwarzer Ausgräber, ein Profi.«
    »Ja.«
    »Sie graben, um Geld zu verdienen.«
    »Ich bin Geschäftsmann, ja.«
    »Wie viel Geld würden Sie wohl dafür verlangen, heute Abend noch einmal unter die Bäume zu gehen?«
    »Dafür könnten Sie mir nicht genug bezahlen.«
    »Warum nicht?«, fragte Arkadi. »Glauben Sie nicht, dass die Minen harmlos sind?«
    »Jedes Jahr reißt eine >harmlose< Mine jemandem ein Bein ab.«
    »Aber ein Profi wie Sie würde die Minen doch erkennen.« Arkadi wollte Schenjas Reaktion sehen, aber der Junge war nicht mehr da. Ein Stück Leinwand an der Rückseite des Zeltes war aufgebunden.
    »Darf ich Ihre Taschenlampe kurz ausborgen?«
    Arkadi trat hinaus in den

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