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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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diente. An unsicheren Stellen standen Schilder mit der Aufschrift »Gefahr - Dünnes Eis«, die bei Tageslicht nicht zu übersehen waren. Der Teich war nicht tief, und das Loch, wo Bora eingebrochen war, befand sich knapp außer Reichweite. Aber durch die Laune des Zufalls lag er in der falschen Richtung auf dem Rücken unter dickerem Eis. Er bekam die Füße nicht unter sich auf den Boden und konnte nur Fäuste, Knie und Kopf benutzen und sich nicht abstützen. Arkadi hatte damit gerechnet, dass Bora vom eiskalten Wasser durchnässt sein würde. Das hier war ein Extrabonus.
    »Ihr Name?«, fragte er den Kameramann. »Petrow. Meinen Sie nicht, wir könnten … » »Ihre Taschenlampe und Ihre Papiere, bitte.«
    »Aber … »
    »Taschenlampe und Papiere.«
    Arkadi verglich den Kameramann mit dem Ausweisfoto eines glatt rasierten Pjotr Semjonowitsch Petrow. Alter: zweiundzwanzig Jahre. Wohnhaft: Olympisches Dorf, Moskau. Volkszugehörigkeit: Russisch, durch und durch. Petrow war eine Beutelratte: Arkadi wühlte tiefer in seiner Tasche und fand eine Visitenkarte von Cinema Selenski, eine Mitgliedskarte der Mensa, Videoclub-Karten, eine zweite Minikassette, ein Streichholzheftchen von einem »Herrenclub« namens Tahiti und ein Kondom. In das Streichholzheftchen war eine Telefonnummer gekritzelt. Arkadi steckte Streichhölzer und Kassette ein und gab den Ausweis zurück.
    Bora presste das Gesicht unter das Eis. Er bewegte sich schon weniger.
    Arkadi legte dem Kameramann den Arm um die Schultern. »Pjotr - darf ich Sie Petja nennen?«
    »Ja.«
    »Petja, ich werde Ihnen eine Frage stellen, und ich möchte, dass Sie antworten, als ob Ihr Leben davon abhinge. Haben Sie verstanden?«
    »Ich habe verstanden.«
    »Seien Sie ehrlich. Wenn die Fahrgäste in der Metro glauben, sie sehen Stalin, was sehen sie dann wirklich? Was ist der Trick?«
    »Da ist kein Trick.«
    »Keine special effects?«
    »Nein.«
    »Wie kommt es dann, dass die Leute ihn sehen?«
    »Sie sehen ihn einfach.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ja.«
    »Na schön.« Arkadi nahm eine Schneeschaufel aus der Öltonne, hob sie hoch und schlug damit auf das Eis über Boras Kopf. Das Schaufelblatt prallte klirrend ab, das war alles. Petja richtete den Strahl der Taschenlampe auf Boras Augen. Sie blickten flach wie die Augen eines Fisches auf Eis. Ein zweiter Schlag. Ein dritter. Bora zuckte nicht mit der Wimper. Arkadi befürchtete schon, er habe ein bisschen zu lange gewartet. Platonow stand glotzend am Rand des Teichs. Arkadi schwang die Schaufel, und die ersten Risse erschienen als Prismen im Licht der Lampe. Er schlug noch einmal zu, und als das Eis brach, versank er bis zur halben Wade im Wasser. Es war, als träte er in einen Eimer mit Eiswürfeln - nicht weiter schlimm. Er arbeitete sich von Boras Kopf nach unten, bis er ihn unter den Achseln fassen und an Land ziehen konnte. Boras Haut war weiß und gummiartig. Arkadi drehte ihn mit dem Gesicht nach unten, setzte sich rittlings auf ihn und drückte auf seinen
     
    Rücken. Mit seinem ganzen Gewicht presste er den Brustkorb zusammen und ließ wieder los, und dabei klapperte er mit den Zähnen. Drücken, loslassen, Zähne klappern. Wenn Arkadi als Kind nach Tschistyje Prudi gekommen war, hatte Sergeant Below immer auf ihn aufgepasst, und er hatte Arkadi beigebracht, wie man Schneeflocken mit der Zunge fing. Die köstliche da, auf der steht dein Name, hatte der Sergeant gesagt. Und da ist noch eine. Und noch eine. Beim Schlittschuhlaufen hatte Arkadi die Schneeflocken gejagt wie eine hungrige Schwalbe.
    Bora würgte. Er krümmte sich zusammen, und das Teichwasser sprudelte aus seinem Mund. Er schnappte nach Luft, Speichelfäden hingen an seinen Lippen. Dann würgte er noch einmal und wrang sich aus. Er war durchnässt und halb erfroren, und er zitterte nicht auf gewöhnliche Weise, sondern heftig, als hätte ihn eine unsichtbare Hand gepackt. Er verdrehte die Augen und sah Arkadi an.
    »Das ist ein Wunder«, sagte Petja.
    »Von den Toten aufgewacht«, sagte Platonow. Er beugte sich vor und verdeckte halb das Licht.
    Bora drehte sich auf den Rücken und drückte Arkadi ein Messer an die Kehle. Er war mit einer Trumpfkarte von den Toten aufgewacht. Die Klinge kratzte über ein Haar, das Arkadi beim Rasieren entgangen war.
    »Danke … und jetzt … werde ich dich ficken«, sagte Bora. Aber die Kälte überwältigte ihn. Sein Zittern wurde unkontrollierbar und so heftig, dass es ihm die Knochen brechen konnte. Er klapperte

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