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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Zementsäcke, hingen über St. Basilius. Das Format war dokumentarisch, und es gab, wie Selenski sagte, düstere Nachrichten: Russland sei »von einer Verschwörung uralter Feinde das Messer in den Rücken gestoßen worden, von einer finanzstarken Oligarchie und ausländischen Terroristen mit dem Ziel, das Vaterland zu unterwandern und zu demütigen«. Selenski sprach in Schlagworten. Der Idealismus sei verschwunden. Die Sowjetunion sei zusammengebrochen, und mit ihr »die Barriere zwischen Russland und dem dekadenten Westen auf der einen Seite und dem islamistischen Fanatismus auf der anderen«. Die russische Kultur sei »globalisiert und verkümmert«. Die Kamera schwenkte von einer alten Frau, die um Kleingeld bettelte, zu einem Werbeplakat für Bulgari. »Kein Wunder, dass Patrioten sich nach der festen Führung einer vergangenen Ära sehnen.« Was das Video zeigen werde, verkündete Selenski mit ernstem Blick in die Kamera, sei vielleicht ein Wunder: die Erscheinung Stalins in der letzten V-Bahn der Nacht.
    Arkadi verfolgte das gesamte Ereignis noch einmal aus einer anderen Perspektive. Petrow begann mit einer einleitenden Aufnahme des V-Bahnwagens und seiner Fahrgäste: Hauptsächlich Rentner wie die beiden Busenfreunde Mendelejew und Antipenko, die Babuschkas, Literaten aus der Lenin-Bibliothek, aber auch Prostituierte, Selenski mit den beiden goldhaarigen Kindern, das pflichtvergessene Schulmädchen, Platonow und Arkadi - nicht gerade ein Querschnitt durch die Gesellschaft, aber doch das, was man um diese Zeit in der Metro erwarten konnte. Arkadi sah beeindruckt, wie wenig Licht eine Videokamera brauchte, wie gut das Mikrofon das Rauschen des Zuges einfing und wie die Kombination dieser Faktoren eine Wirkung hervorrief, die authentischer war als das tatsächliche Erlebnis.
    » Wir erreichen jetzt die Station Tschistyje Prudi, die Stalin noch Kirow nannte«, flüsterte Petrow hinter der Kamera.
    Überall im Wagen gerieten die Fahrgäste in eine erwartungsvolle Unruhe. Mendelejew und Antipenko hatten sich halb von ihren Plätzen erhoben. Die Babuschkas verrenkten die Hälse, man sah Funken, Dunkelheit und das nahende Licht des Bahnsteigs, und in einem zusätzlichen Augenblick völliger Finsternis rief eine Frauenstimme: »Stalin! »
    Die Türen öffneten sich, und alle strömten hinaus - bis auf Arkadi, der Platonow beobachtete, und Selenski, der Arkadi beobachtete.
    Die Kamera schwenkte auf den Bahnsteig. Die Menge war dort größer geworden, denn die Fahrgäste aus den vorderen Wagen kamen dazu. Stalins Foto lehnte an einem Pfeiler. Die beiden Kinder zündeten eine Kerze vor dem Foto an und dankten Stalin dafür, dass er die Menschheit gerettet habe und ein leuchtendes Vorbild seiner Zeit gewesen sei. Veteranen nickten feierlich, und Frauen betupften sich die Augen. Selenski interviewte geschmeidig ein paar reizende alte Damen und verteilte seine Patrioten- T-Shirts, und die Party war in vollem Gange, als aus dem Nichts ein Wahnsinniger in einer langen, dunkelblauen Seemannsjacke erschien, die Kerze mit einem Tritt auf die Gleise beförderte, die Versammlung per Dekret für beendet erklärte und die Kamera an sich riss. Arkadi machte keine gute Figur.
    An keiner Stelle zeigte das Band die beiden Amerikaner oder Bora. Und ein Zeitlupendurchlauf ergab, dass es die rothaarige Prostituierte gewesen war, die Stalins Namen als Erste gerufen hatte, vor Mendelejew und Andpenko.
    Arkadi spürte, dass er etwas essen sollte, aber das war eine theoretische Überlegung, denn in seinem Schreibtisch war nichts Essbares außer einer Käserinde in fettigem Papier. Also rauchte er eine Zigarette und versuchte noch einmal, Eva auf dem Handy zu erreichen. Es war immer noch abgeschaltet. Arkadi hätte gedacht, dass in der Klinik in dieser Nacht weniger Betrieb sein würde. Bei einem Schneesturm blieben die Leute - auch die Kriminellen - meistens lieber zu Hause.
    Das zweite Videoband war offensichtlich früher gedreht worden, als Probeaufnahme mit dem Jungen und dem Mädchen. Sie durchquerten ein Zimmer. Das Mädchen hielt einen Federwisch anstelle des Blumenstraußes, und der Junge hatte statt der Votivkerze einen Stift in der Hand. Die Kinder konnten kaum gehen, weil sie so sehr über die Graffiti an der Wand kichern mussten: übergroße Geschlechtsorgane, Telefonnummern und die Worte »Olga liebt Petja«.
    Selenski gab aus dem Off seine Anweisungen. »Das ist kein Spaß. Noch mal, langsamer, wie in der Kirche. Wart ihr schon

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