Stalins Geist
bedienten mehrere Schnüre gleichzeitig. Arkadi wusste seinen Namen nicht, obwohl er den Mann schon oft gesehen hatte. Dann drang die Sonne durch einen Tunnel unter den Wolken hindurch, und es wurde plötzlich hell. Arkadi sah Marfa, Eva und Schenja unter dem Eis. Er hatte niemanden gerettet.
Sieben
Die Harfenistin im Speiseraum des Metropol spielte mit träge fließenden, kreisförmigen Handbewegungen und geschlossenen Augen, scheinbar ohne die Amerikaner wahrzunehmen, die am Nachbartisch frühstückten. Wiley hatte ein rundes Gesicht und feines Haar und sah aus wie ein eins achtzig großes Baby im Anzug. Er füllte sich eine Schale mit Frühstücksflocken – ein Mann, vermutete Arkadi, der sich vorgenommen hatte, gesund zu sterben. Pacheco sah aus wie sein Beschützer. Er war Mitte vierzig, hatte eine kahle Stelle auf dem Kopf und einen Stiernacken, und er begann seinen Tag mit einem Steak und einem Stapel Blini.
Warum, hatte Arkadi sich gefragt, notierte ein schmuddeliger Typ wie Petja Petrow die Telefonnummer des Metropol auf dem Streichholzheftchen eines »Herrenclubs« namens Tahiti? Wen aus der internationalen Klientel des Metropol konnte Petja kennen? Arkadi konnte sich nur vorstellen, dass es die beiden Amerikaner aus der Metrostation Tschistyje Prudi waren, und er erkannte sie gleich, als er den Speisesaal betrat. Der Oberkellner hatte einen Blick auf die Gästeliste am Eingang zum Büfett geworfen und die Namen herausgerückt, und Arkadi hatte gewartet, bis die Amerikaner mit dem Essen angefangen hatten, bevor er sich zwischen rosa Tischdecken und roten Polsterbänken zu ihnen hindurchgeschlängelt hatte.
»Was dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?« Arkadi zeigte seinen Ausweis, während er sich setzte. Was Umgangsformen anging, war es ein bisschen peinlich - als drängte er sich in ein Ruderboot, das schon besetzt war.
Die Amerikaner ließen sich nicht aus der Fassung bringen.
Wiley reichte den Ausweis zurück. »Nicht im Geringsten. Eine Tasse Kaffee? Frühstück? Tun Sie sich keinen Zwang an.«
»Treten Sie nur nicht alles um wie letzte Nacht.« Pacheco hatte die tiefe Stimme eines lebenslangen Rauchers. »Zumindest einen Kaffee.« Wiley winkte dem Kellner.
»Sie erinnern sich also an letzte Nacht? Stalin in der Metro?«
»Wie Sie da eingeschritten sind? Wie soll ich das vergessen?«
»Ich bitte um Entschuldigung.«
Pacheco hatte ein grobes Gesicht und kleine schwarze Augen. »Der Mann spricht besser Englisch als ich.«
»Ernie ist aus Texas«, sagte Wiley. »Er ist ein Cowboy.«
»Sschh.« Pacheco hob den Zeigefinger, als die Harfenistin von »Für Elise« zu »Lara’s Theme« überging. »Je Doktor Schiwago gesehen?«
»Kann sein, dass der Ermittler Renko sogar das Buch gelesen hat«, sagte Wiley.
»Zwei Amerikaner tauchen mitten in der Nacht auf einem Bahnsteig in der Metro auf. Sie steigen nicht aus, sie steigen nicht ein. Stattdessen beteiligen sie sich an der illegalen Videoaufnahme einer Feier zu Ehren Stalins. Sprechen Sie Russisch?«
»Ich hatte Russisch als Nebenfach auf dem College«, sagte Wiley.
»Ich war Marinesergeant in der Botschaft.« Pacheco zersägte sein Fleisch und trieb es zusammen. »Damals im Kalten Krieg.«
»Ich kann Ihnen nur sagen, es war unser Job«, sagte Wiley. »In Moskau? Was für ein Job ist das?«
»Ich bin im Marketing. Ich helfe Leuten, Dinge zu verkaufen. Das können Softdrinks sein, schnellere Autos, frischere Waschmittel. Alles und überall - in Moskau, New York, Mexico City.«
»Wollen Sie Stalin in Amerika verkaufen?«
»Nein. In den Staaten ist Stalin tot. Wohl gemerkt, mit Hitler ist das anders. In Amerika ist Hitler immer noch heiß. Im History Channel, in der Mode, in Videospielen. Aber hier in Russland ist Stalin der King. Langer Rede kurzer Sinn: Wir nutzen die Stalin-Nostalgie, um der politischen Partei der Russischen Patrioten Publicity zu verschaffen. Das ist eine neu gegründete Partei, und die Wahlen sind in drei Wochen. Sie braucht unverzüglich eine Identität und einen attraktiven Kandidaten. Einen gut aussehenden Kriegshelden, wenn möglich.«
»Brandy?« Pacheco sah Arkadi an. »Zum Frühstück?«
»Warum nicht.«
Arkadi versuchte den Faden wieder aufzunehmen. »Aber die russischen Wahlen sind eine russische Angelegenheit. Sie sind Amerikaner.«
»Erinnern Sie sich an Boris Jelzins Auferstehung von den Toten?«, fragte Wiley. »Er hatte eine Zustimmungsrate von zwei Prozent - er war ein Säufer, er war ein
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