Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
Jacke von den Schultern und nahm seine Hände. »Sie können doch tanzen.«
    Arkadi konnte Walzer tanzen. Es war ein passendes Zwischenspiel für einen solchen Abend: Stalin sang, die Fenster bebten, Tanja legte den Kopf an seine Brust. Was für ein lächerliches Paar sie abgaben, dachte er: Sie war die Ballschönheit, und er sah aus, als sollte er eigentlich Schnee schaufeln. Sie hatte Schwielen an den Fingerspitzen, aber die kamen vom Harfespielen.
    » Verzeihen Sie, dass ich noch dasselbe Kleid anhabe, in dem Sie mich heute Morgen gesehen haben. Ich hab den ganzen Tag auf Empfängen gespielt. Ich muss aussehen wie ein zerdrückter Kohlkopf.«
    »Ein bisschen.«
    »Sie hätten jetzt sagen sollen, ich sehe aus wie eine weiße Rose. Sie reden nicht viel, wie?«
    Er suchte nach einer Eröffnung. »Wollen Sie wirklich einen Amerikaner heiraten?«
    Sie hob kurz den Kopf. »Woher wissen Sie das?«
    »Cupido. Die Agentur. Dort werden Sie als Tänzerin geführt. Was für Tänze tanzen Sie?«
    »Moderne«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Was haben die sonst noch über mich gesagt?«
    »Dass Sie nicht mein Typ sind.«
    »Wissen Sie, deren Problem ist, sie mögen keine Spontaneität. Meine Überzeugung ist, dass man eine Gelegenheit ergreifen muss, wenn sie sich bietet. Wie finden Sie Abenteuer?«
    »Fast immer unbehaglich. Sagen Sie, was sind das für
    Freunde, die Sie hierher bringen und dann ohne Sie weggehen?«
    »Na ja, jetzt kann ich denen erzählen, dass ich Stalin gehört habe.« Sie sprach den Namen mit einem lispelnden S.
    »Das ist erstaunlich. Ich kenne ein paar Leute, die Stalin kürzlich gesehen haben.«
    »Sind die verrückt?«
    »Ich weiß es nicht.« Sie streiften die Ärmel einiger Mäntel an einem Kleiderständer. »Sie haben einen besseren Partner verdient«, sagte Arkadi.
    »Sie sind genau der, den ich wollte. Haben Sie Glück bei
    Frauen?«
    »In letzter Zeit nicht.«
    »Vielleicht ist Ihre Pechsträhne vorbei.«
    Als das Lied zu Ende war, ließ Tanja ihn widerstrebend los.
    Auf »Suliko« folgte eine Rede, eine von Stalins Tiraden, die endlos dauern konnten, weil der »Große Lehrer« immer wieder von Applaus unterbrochen wurde, der in den Zeitungen als »anhaltend und donnernd« beschrieben wurde. Jedenfalls konnte man dazu nicht tanzen, dachte Arkadi, und obwohl er Tanjas Enttäuschung spürte, zog er seine Jacke an.
    »Wir müssen die Theorie, die behauptet, die trotzkistischen Zerstörer verfügten nicht über umfangreiche Mittel, zerschlagen und über Bord werfen.« Das war der andere Stalin - eine Stimme wie ein Hammer, Worte wie Zimmermannsnägel. »Sie ist unwahr, Genossen. Je weiter wir fortschreiten, je zahlreicher unsere Erfolge werden, desto hasserfüllter werden die Überreste der Ausbeuterklasse. Wir müssen sie vernichten und stürzen!«
    Beifall brach aus, und Surkow drehte das Grammophon lauter und ließ den Jubel durch das Haus fluten. Arkadi sagte nichts, denn Tanja hatte ihm eine Garotte um den Hals geschlungen und zog sie straff. Das Harfenspiel hatte sich ausgezahlt; sie hatte starke Arme. Die Garotte war eine stählerne Harfensaite mit einem Holzgriff an jedem Ende. Tanja stand hinter ihm, aber er rührte sich nicht von der Stelle; sie brauchte sich nur zurückzulehnen, um ihn zu halten. Der Draht schnitt sich in seine Kehle und kreuzte sich in seinem Nacken. Sie hielt ihn mit starken Händen gepackt. Hätte er den Kragen seiner Jacke nicht hochgeschlagen, wäre die Schlinge ein ringförmiges Messer um seinen Hals gewesen.
    Trotzdem grub sie sich so tief in seine Haut, dass Arkadi sie nicht fassen und lockern konnte. Wenn er versuchte, hinter sich zu greifen oder sich umzudrehen, verstärkte Tanja den Druck. Er konnte nicht atmen oder schreien, weil seine Luftröhre verschlossen war.
    Anschwellender Applaus, vereinzelte Rufe: »Jagt sie davon!«
    »Werft sie den Hunden vor!«
    Arkadis Gesicht schwoll an wie ein Ballon. Sie zerrte ihn zurück und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er ruderte mit den Armen und fegte einen Stapel Handzettel vom Kopierer. »Marx: Häufig gestellte Fragen.« Auch Arkadi hatte die eine oder andere Frage. Tanja trat nach seiner Kniekehle, traf aber nicht. Wenn er fiele, könnte sie ihn am Hals über den Boden schleifen, und er wäre desto schneller tot.
    Anhaltender Applaus. »Kugeln sind zu schade!«
    Das Ersticken verlief schrittweise. Als Erstes Ungläubigkeit und wildes Umsichschlagen. Dann die aufdämmernde Erkenntnis, dass die Kräfte

Weitere Kostenlose Bücher