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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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glockenhafter Nachklang in der Luft. Verkehrsampeln erwachten blinkend, und der Lärm der Schneepflüge ließ nach, doch auf halbem Weg nach Hause wurde der Schmerz beim Autofahren - das Drehen des Kopfes nach links und rechts - so unerträglich, dass Arkadi den Wagen am Fluss abstellte und den Rest des Weges zu Fuß ging. Mit gesenktem Kopf folgte er seinen Füßen, und die wenigen Schneeflocken, die der Wind aufwirbelte, setzten sich in sein Haar, schmolzen und kühlten seinen Hals.
    Zumindest die Suche nach Stalin war vorbei. Was vermutlich bedeutete, dass Arkadi sich nicht länger die imaginären Drohungen anhören musste, die sich Großmeister Platonow ausdachte, um den Immobilienunternehmern Steine in den Weg zu legen. Bald könnte sich ein Apartmenthaus im amerikanischen Stil mit Wellnesscenter und Sushibar aus der Asche des Schachclubs erheben. Man musste Platonow zugute halten, dass der alte Bolschewik Arkadi in seiner Aussage bei der Polizei entschieden verteidigt hatte. Jedenfalls konnte Arkadi sich jetzt für seinen nächsten Einsatz ausruhen, der vermutlich östlich des Urals und nördlich des Polarkreises stattfinden würde.
    Arkadi nahm Kurs auf den Hof hinter seinem Gebäude. Die Parkfläche bestand aus drei Reihen nebeneinander zusammengezimmerter Blechschuppen, die so schmal waren, dass man sich winden musste, um herauszufahren. Abgeschnittene Plastikflaschen schützten Vorhängeschlösser vor dem Schnee, und man hatte einen Pfad aus Asche auf den Boden gestreut, aber die Lampe, die den Hof sonst beleuchtete, war dunkel. Arkadi zögerte neben dem Spielplatz mit dem von Eis umhüllten Kletterturm. Er blieb ganz still stehen; sein steifer Hals half ihm dabei, und das Brennen der Würgernale hielt ihn warm. Keine blendenden Scheinwerfer strahlten auf, nur ein Lichtpunkt wie das Auge einer Motte kreiste in einem Auto: Eine Zigarette, für einen Zug an den Mund geführt und wieder gesenkt. Der Fahrer hatte am hinteren Ende der Reihe geparkt, Arkadis Schuppen gegenüber. Wäre Arkadi wie immer mit dem Wagen gekommen, hätte er ihn nie bemerkt.
    Er verließ den Hof und ging zur Vorderseite des Gebäudes.
    An der Ecke blieb er stehen. Einer körperlichen Konfrontation, ja selbst einer Unterredung fühlte er sich nicht gewachsen. Alles, was er im Licht der Straßenbeleuchtung sah, war eine frühmorgendliche Baukolonne. Die Leute standen mürrisch um eine schwere Teerwalze herum, die in demselben Schlagloch versunken war, an dem sie schon seit einer Woche arbeiteten.
    Arkadi fuhr mit dem Aufzug zwei Stockwerke über seine Wohnung hinaus. Oben wartete er einen Augenblick und lauschte, bevor er die Treppe hinunterging. Jetzt tat sein Hals so weh, dass es ihm gleichgültig war, ob hinter der Wohnungstür Giftschlangen lauerten. Er schloss auf und trat ein.
    Ohne das Licht einzuschalten, ging er geradewegs in die Küche, machte sich einen Eisbeutel aus einem Geschirrtuch und Eiswürfeln und zerkaute eine Handvoll Schmerztabletten. Noch immer im Dunkeln tastete er in den Wandschrank, um festzustellen, ob Evas Koffer und ihre Kassetten noch da waren. Sie waren fort, und er fragte sich, ob sie schon von ihm und Tanja gehört hatte. Derart schlechte Neuigkeiten verbreiteten sich schnell.
    Seine letzte Hoffnung war die kleine blinkende Lampe an seinem Anrufbeantworter. Da war eine Nachricht. Drei Nachrichten.
    »Ginsberg hier. Ich bin am Majakowski-Platz, im Straßencafe, ein bisschen zu früh, weil ich mit der Story über den Pizzaprozess schneller fertig war, als ich dachte. Und jetzt brauche ich etwas zu trinken. Genau gesagt, eigentlich muss ich pinkeln. Ich könnte mich auch zwischen zwei Autos stellen, und niemand würde etwas merken. (Nervöses Hüsteln.) Entschuldigen Sie, dass ich Sie unter Ihrer Privatnummer anrufe, aber die Karte, die Sie mir gegeben haben, ist dreckig geworden, und ich habe Ihre Handynummer nicht. Hören Sie, Renko, ich glaube, es ist keine so tolle Idee, dass wir beide uns treffen. Es geht alles nur um eine Frau, nicht wahr? Das sagen die Leute jedenfalls. Es klingt nicht so, als hätte es viel mit Tschetschenien zu tun. Es klingt nach was Persönlichem. Deshalb passe ich.«
    Der zweite Anruf, fünf Minuten später, war von derselben Nummer gekommen. Der Anrufer hatte aufgelegt.
    Der dritte war zehn Minuten später gekommen, wieder von derselben Nummer. Diesmal wurde nicht aufgelegt.
    »Ich bin’s noch mal«, sagte Ginsberg. »Wussten Sie, dass Majakowski eine Warnung vor dem Selbstmord

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