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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Pressung, nicht für die allgemeine Öffent-
    lichkeit gedacht.« Surkow senkte die Nadel auf die Rille. »Werde ich den Musiker kennen?«, fragte Tanja.
    »Vor Ihrer Zeit«, sagte Surkow.
    Die Akustik im Zimmer schien sich auszudehnen und einen anderen Raum anzuzapfen, einen Raum mit nervösem Gehüstel, Füßescharren und Lampenfieber. Dann spielte ein Klavier die ersten Töne einer Melodie.
    »Berija am Piano«, sagte Surkow.
    Berija, der als Chef der Staatssicherheit das Todesurteil für vielleicht Millionen seiner Landsleute unterschrieben hatte, spielte zuerst zögerlich, dann aber zuversichtlicher.
    »Schneller! », befahl jemand, und sofort beschleunigte Berija das Tempo.
    Tanja war überrascht. »Das kenne ich. >Tea for Two<. Ich spiele es auch.«
    »Berija war auch ein ziemlich guter Tänzer«, sagte Surkow. Tanja flüsterte Arkadi zu: »An Sie erinnere ich mich auch.
    Sie haben zusammen mit Amerikanern beim Frühstück im Metropol gesessen.«
    »Ich dachte, Sie hatten die Augen geschlossen.«
    »Es macht die Leute nervös, wenn man sie beim Essen beobachtet. Warum waren Sie mit Amerikanern zusammen?«
    »Wir hatten einen gemeinsamen Freund.« Eine saloppe Bezeichnung für Petja.
    »Tanzen?« Surkow reichte ihr seine Hand.
    Achselzuckend ließ sie sich von ihm in einer hopsenden Polka um den Schreibtisch ziehen. Platonow sah wehmütig zu; er vermisste eine Spielgefährtin in seinem Alter.
    »Wie gut kennen Sie sie?«, fragte Arkadi ihn.
    »Überhaupt nicht, aber eine hübsche Frau schmückt einen Laden immer.«
    »Haben Sie neue Drohungen bekommen?«
    »Nicht, seit ich mich unter Ihren Schutz begeben habe. Sie leisten ausgezeichnete Arbeit.«
    Die Nadel des Plattenspielers fing an zu rauschen. Ein Kirchenlied folgte, und Tanja befreite sich mit hörbarem Seufzen.
    Orthodoxe Gesänge waren von einem langsamen Verschmelzen der Stimmen geprägt, monoton und hypnotisierend. Arkadi fragte sich, wer in diesem Schlächterchor mitgesungen haben mochte. Breschnew? Molotow? Chruschtschow? Ein kraftvoller Bariton trug sie alle durch das Geknister der Kratzer.
    »Das ist Marschall Budjonni, der Kosak.«
    Wie Arkadi sich erinnerte, war Budjonni in den Augen seines Vaters der dümmste Kerl in der gesamten Roten Armee gewesen, ein alter Kavallerist, der den Übergang von Pferden zu Panzern niemals vollzogen und den Deutschen mindestens ein Bataillon geschenkt hatte.
    »Kommunisten singen Kirchenlieder?«, fragte Tanja.
    »Im Krieg betet man«, sagte Platonow, »ob man Atheist ist oder nicht.«
    Keinem der Lieder ging eine Einleitung voraus, aber wie auf Kommando endeten die Kirchenlieder, und eine einzelne Stimme fing an zu singen. »Ich suchte das Grab meiner Liebsten, und der Schmerz zerriss mir das Herz, denn das Herz tut weh, wenn die Liebe geht. Wo bist du, Suliko?«
    »Das ist er.« Surkow formte die Worte lautlos mit den Lippen.
    Stalins alltägliche Stimme klang trocken und ironisch wie die eines Henkers. Er sang in einem angenehmen Tenor und mit sentimentalem Melodiegefühl. Es war ein Solo, nur Stalin und das Klavier; wahrscheinlich war es Berija, der an den Tasten saß. Der Große Führer hatte einen georgischen Akzent, aber das Lied stammte ja auch aus Georgien, und es erzählte eine klassische Geschichte: Ein unglücklicher Liebender stellte fest, dass das Mädchen, das er sucht, vom Tod verwandelt worden ist. Als er ruft: »Bist du da, meine Suliko?«, antwortet eine Nachtigall: »Ja.«
    »Es ist, als stände er hier bei uns«, sagte Surkow, »so nah klingt seine Stimme.«
    »Dann ist es jetzt wirklich Zeit zum Gehen«, sagte Arkadi. Tanja bat, mitfahren zu dürfen. »Die Leute, mit denen ich gekommen bin, sind nicht mehr da, aber mein Mantel hängt unten.«
    »Bleib bei mir, Tanjuschka.« Surkow streckte die Hand aus. Sie nahm Arkadis Arm. »Retten Sie mich vor diesem verrückten Bolschewiken. Heute ist Internationaler Frauentag. Sie müssen mich beschützen.«
    »Kommen Sie?« Arkadi sah Platonow an. »Gleich.«
     
    Die Tür zum Lagerraum leuchtete weiß umrissen im Licht einer Straßenlaterne. Drinnen hingen Kleiderbügel, und ein Kopierer, ein Scanner und ein Aktenvernichter hockten im Dunkeln. Platonow war noch oben, wo erneut »Suliko« gespielt wurde und der sentimentale Tenor sang: »Ich sah Tautropfen, die von der Rose fielen wie Tränen. Weinst auch du, meine Suliko?«
    »Tanzen Sie mit mir«, sagte Tanja. »Haben Sie nicht schon getanzt?«
    »Surkow zählt nicht.« Sie streifte Arkadi die blaue

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