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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Lücke in der schwarzen Abwehr, und es sah nicht schlecht aus. Bei dem Versuch, seine Figuren zu schützen, verlor Schenja die Offensive, und der Verlust der Offensive sorgte dafür, dass die Aufgaben der Verteidigung überwältigend wurden. Mehrere Ziele taten sich auf. Die Auswahl war so schwer, dass der Wunderknabe auf seinem Stuhl zu zappeln anfing. Erst als er nur noch fünfzehn Sekunden auf seiner Uhr hatte, wurde ihm klar, dass Schenja noch fast eine volle Minute zur Verfügung hatte. In diesem Augenblick offenbarte Schwarz eine lange Diagonale quer über das Brett und die Fesselung der weißen Dame - nichts Schwerwiegendes, nichts, was sich nicht mit einer zwei- bis dreiminütigen Analyse hätte lösen lassen. Die Hand des Wunderknaben schwebte über den Figuren. Sie schwebte immer noch in der Luft, als seine Uhr auf 0:00 schaltete.
    Platonow verzog verächtlich den Mund. »Ein feiner Sieg. Er hat ein Baby überlistet. Hat seine Zeit besser eingeteilt als ein Gegner, der kaum über das Brett blicken kann.«
    »Jetzt sind nur noch vier Spieler übrig«, stellte Arkadi fest. »Ich habe nie gesagt, dass er kein Talent hat. Ich habe gesagt, er vergeudet sein Talent. Er spielt nur um Geld, und das, das, das hier ist der Beweis. In einem Kasino. Sehen Sie ihn an.« Platonow zeigte auf den Monitor. Schenja hatte seine Kapuze hochgeschlagen, und sein Gesicht war fast vollständig verborgen. »Er hält sich für Bobby Fischer.«
    In der Pause wagte ein Mädchen in Schenjas Alter, in seine Isolation einzudringen und ihm einen Kaugummi anzubietenvorsichtig, wie man einem halbwilden Tier etwas zu fressen reicht. Als die Pause vorüber war, blieb sie auf dem Platz des Gegners sitzen, und er kaute bedächtiger.
    Sie spielte Schwarz und machte Schenja gleich mit den ersten Zügen die Herrschaft über das Mittelfeld streitig. Sie spielte ebenso kaltblütig wie er und opferte einen Bauern, um Tempo zu gewinnen und mit Weiß auf gleiche Höhe zu kommen. Blitzschach war ein Spurt, und es war schwer, den Anfang von der Spielmitte und die Mitte vom Ende zu unterscheiden. Vierzig Züge in fünf Minuten. Kein Remis. Auf dem zweiten Brett, an dem noch gespielt wurde - der Universitätschampion gegen den grauhaarigen Veteranen -, sorgte der Zwang zum Tempo um der Vereinfachung willen für einen Figurentausch nach dem anderen. Im Gegensatz dazu entwickelten Schenja und das Mädchen ein kunstvolles Gerüst aus vergifteten Bauern, verschleierten Drohungen und Phantomangriffen. Die leiseste Erschütterung konnte alles zum Einsturz bringen. Das Mädchen studierte das Brett mit durchdringendem Blick. Schenja hielt die Augen geschlossen. Er spielte gern blind; Arkadi hatte es schon oft gesehen. Im Geiste, hatte Schenja ihm einmal erzählt, sah er sämtliche Varianten dreidimensional vor sich. Er analysierte nicht. Er sah.
    Schenja öffnete die Augen. Er machte Druck. Bei anfänglichem Figurengleichstand fegten er und das Mädchen das Brett in den nächsten fünf Zügen wie mit dem Maschinengewehr leer, und am Ende unterschieden sich ihre Positionen nur in einem Punkt: Sie attackierte seinen König mit einem Läufer, er den ihren mit einem Springer. Ein Läufer hatte die größere Reichweite, aber ein Springer konnte die gegnerischen Linien überwinden, und wenn es eng wurde, war das der Vorteil.
    Sie sah es auch. »Matt in fünf Zügen«, sagte sie und legte ihren König auf die Seite.
    »Das Mädchen hat Zukunft«, sagte Platonow.
    »Wir haben unsere Finalisten!«, verkündete die Moderatorin. »Der Studentenmeister der Universität Moskau, Tomaschewski, und die Überraschung dieses Turniers.«
    »Was sagen Sie zu Schenjas Spiel?«, fragte Arkadi.
    »Was sagen Sie?«, fragte Platonow zurück. »Sie fragen sich seit Tagen, was er macht. Er hat sich vorbereitet.«
    Lydia zog Tomaschewski und Schenja vor die Kamera und fragte sie, was sie mit tausend Dollar anfangen würden, wenn sie gewinnen sollten.
    »Ich kaufe mir ein neues Road Bike«, sagte Tomaschewski.
    Er sah athletisch aus. »Und Bier.«
    Lydia wandte sich an Schenja. »Und du?«
    »Ein Dreirad«, schlug Tomaschewski vor.
    Schenja schwieg. Er betrachtete einen Käfig mit bunten Papageien, die sich aneinander schmiegten und mit ihren ledrigen Lidern blinzelten.
    »Das ist wohl dein Geheimnis.« Die Moderatorin ließ ihn in Ruhe.
    »Das ist die Wahrheit über das Schachspiel«, sagte Platonow. »Man gewinnt nicht, man verliert. Man findet einen Weg in die Niederlage. Schach, das ist

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