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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Fingernägel sauber zu machen?«, fragte er Schenja.
    Vom Leben in den Güterwagen in der Umgebung der Drei Bahnhöfe hatte Schenja schwarze Halbmonde unter den Nägeln. Er starrte sie an, während sein Gegner mit seinem Königsbauern eröffnete. Er studierte immer weiter den Schmutz in den Falten seiner Hände. Sein Gegner wartete. Beim Blitzschach war jede Sekunde kostbar. Die anderen Bretter bebten unter den hastigen Zügen und den Schlägen auf die Schachuhren.
    »Nach all dem ist Ihr Bengel jetzt zur Salzsäule erstarrt«, sagte der Produzent zu Arkadi.
    Eine Minute verging. Die Spieler an den Nachbartischen warfen verstohlene Blicke auf Schenja, der den weißen Bauern allein und unbedroht mitten auf dem Brett stehen ließ. Die ersten Züge waren die einfachsten, aber Schenja war wie gebannt. Zwei Minuten vergingen. Die digitale Stoppuhr hatte zwei LED-Displays, die für den Fall, dass ein unglücklicher Verlierer sie vom Tisch fegte, in robustes Plastik gefasst waren. Die Kamera zoomte heran. Die schnellen Bewegungen auf den anderen Brettern machten es schwer, festzustellen, wer gewann und wer verlor, aber bei Schenjas Brett und der Schachuhr daneben war auf den ersten Blick klar, wer hier immer weiter und weiter zurücklag. Sein Gegner wusste nicht, was für ein Gesicht er machen sollte. Zu Anfang freute er sich, Schenja allem Anschein nach ratlos zu sehen. Aber als die Sekunden vergingen, wurde ihm immer unbehaglicher zumute, als sei er gezwungen, allein zu tanzen. Jemand hier wurde gedemütigt, doch er wusste nicht mehr, wer. Zu Schenja konnte er nichts sagen; nach Spiel beginn war das Sprechen am Brett gegen die Regeln. Schenja stand auf, und sein Gegner erhob sich halb von seinem Stuhl und rechnete damit, dass der Junge aussteigen würde. Aber stattdessen zog Schenja seinen Anorak aus und hängte ihn über die Stuhllehne, um sich dann in eine längere Analyse zu vertiefen.
    Als noch zwei Minuten übrig waren, fing Schenja an zu spielen. Außergewöhnlich war weniger die Entwicklung auf der schwarzen Seite, als vielmehr die Schnelligkeit, mit der er den Zügen der weißen Figuren begegnete. Weiß machte einen Zug und hatte kaum Zeit, auf den Hebel der Schachuhr zu drücken, als Schwarz schon das Gleiche tat, sodass die Hebel manchmal fast gleichzeitig klickten. Der enorme Zeitvorsprung, den Weiß für seine Züge hatte, erschien bald bedeutungslos, ja lächerlich. Der Gegner fing an, in Schenjas Tempo zu spielen, und gab zwei Bauern für einen vielversprechenden Vorstoß auf der Damenseite auf. Er tauschte mehrere Figuren mit leichtem Nachteil, sah seinen Angriff auf der Damenseite zusammenbrechen, ließ sich panisch auf einen blitzschnellen Figurentausch ein, bei dem das Brett leer geräumt wurde, und sah dann entblößt zu, wie ein schwarzer Bauer gelassen zur Verwandlung spazierte. Kameras, Gäste und Spieler, die schon fertig waren, beobachteten, wie der weiße König fiel. Der Besiegte sank auf seinem Stuhl zurück, immer noch verwirrt. Eine solche Niederlage konnte einem das Spiel für alle Zeit verleiden, dachte Arkadi. Schenja sah sich nach seinem nächsten Gegner um.
    Platonows Urteil im Übertragungswagen lautete: »Nichts als Tricks. Wenn man Schenja erlaubt, den Rhythmus zu bestimmen, wird er einen natürlich überrennen. Blitzschach spielt man nicht mit dem Kopf. Da ist keine Zeit zum Nachdenken. Man spielt mit den Händen, und der kleine Scheißer hat sehr schnelle Hände. Aber jetzt weiß jeder, wie stark er ist. Die Eitelkeit wird sein Untergang sein.«
    Schenjas zweiter Gegner war das Wunderkind. Der Junge saß auf seinem erhöhten Stuhl und starrte Schenja, der sich in der Pause die Fingernägel gereinigt hatte, unerschrocken ins Gesicht. Der Produzent verschlang die Szene mit den Augen.
    »Zwei Jungen von verschiedenen Planeten - und keiner davon ist die Erde. Näher rangehen. »
    Als das Wunderkind beim Münzwurf gewann, zoomte die Kamera auf das Lächeln, das sich an seinen Mundwinkeln zu verstecken versuchte. Der Junge hatte eine Stimme wie ein Chorsopran. »Weiß, bitte.«
    Schenja, wieder mit den schwarzen Figuren, reagierte von Anfang an mit einfachen Kontern und entwickelte seine Position, er rochierte, zeigte keine offenkundigen Schwachstellen und führte keinen klaren Angriff. Grabenkrieg. Zahlenmäßig herrschte Gleichstand, bis der Wunderknabe mit Schenja machte, was Schenja mit seinem ersten Gegner gemacht hatte, und mit Doppelbauern gegen ihn vorrückte. Es war die erste

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