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Stalins Geist

Stalins Geist

Titel: Stalins Geist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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starke Figuren sich noch nicht bewegt, während die Springer und Läufer des Großmeisters bereits auf dem Schlachtfeld waren. Dieser Angriff war zu verwegen für ein Schachspiel. Es war der reine Blitzkrieg.
    Schenja stützte das Kinn auf die Hand und betrachtete die Figuren auf dem Brett mit der Ruhe eines jungen Dämonen am Turm einer Kathedrale. Arkadi versuchte sich vorzustellen, wie es sein musste, das Spiel zu sehen, wie Schenja es sah. Der Läufer schlich sich schlangenhaft in die Diagonale, der Springer setzte über alle Barrikaden hinweg, die Dame war eine Diva, der König bang und so gut wie nutzlos. Oder war das zu romantisch? Sah Schenja das Spiel nur in Bits und Bytes wie ein Computer?
    Schenja schob seinen vordersten Bauern näher an das Gemenge - eine Provokation. Der Sturm begann. Sie spielten so schnell, wie sie auf die Uhr schlagen konnten; Platonow attackierte, und Schenja verteidigte. Sie schleusten Figuren ein, rissen Beutestücke heraus, rochierten unter Druck, Bauernopfer wurden angeboten und abgelehnt. Gedankenprozesse konnten dabei nicht im Spiel sein, dachte Arkadi; der Verstand genügte hier nicht. Hier ging es um Tempo, Druck, Intuition. Die Formation auf dem Brett änderte sich und änderte sich wieder. Selbst auf dem Großbildschirm des Kasinos war es schwer, Ebbe und Flut der Partie zu verfolgen, und gerade als Arkadi annahm, das Spiel werde in weniger als einer Minute zu Ende sein, hielt Platonow inne, um den Schaden zu begutachten. Die Hälfte der Figuren stand neben dem Brett, und die Situation hatte sich umgekehrt, als hätte Schenja ein Kartenspiel neu gemischt. Platonow hatte einen Bauern mehr, und Schenja beherrschte mit der Macht seiner zwei Türme das Zentrum.
    Sekunden verstrichen. Platonow sah aus wie ein Mann, der versucht, ein Tor gegen eine anstürmende Übermacht verschlossen zu halten. Arkadi fragte sich, ob der Großmeister gerade in den hunderttausend Partien, die in seinem Gehirn gespeichert waren, nach einer ähnlichen Situation suchte. Sein kostbarer Bauer war isoliert, aber nur mit ihm hatte er noch eine Chance, zu gewinnen; er deckte ihn mit einem Turm, und Schenja füllte die dadurch entstehende Lücke unverzüglich mit seinem Läufer. Platonow igelte sich ein, und beim Schach war das eine wirkungsvolle Strategie. Aber Blitzschach war kein Spiel für Igel: Hier musste man ziehen, ziehen, ziehen. Er wehrte eine Bedrohung nach der anderen ab und zog dabei mit seinem Bauern behutsam auf das achte Feld zu, wo er sich in eine zweite Dame verwandeln würde. Der schwarze König nahm die Verfolgung auf und rückte über die offenen Felder schräg auf den Bauern zu. Der weiße König war in seiner eigenen Abwehr gefangen.
    Als Platonow wieder zögerte, nieste jemand, und Schenja warf einen Blick auf die Zuschauerreihen. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und schaute noch einmal hin. Der Großmeister studierte noch immer das Brett, als Schenja den schwarzen König umlegte.
    Platonow war verblüfft. »Was machst du da? Du bist im Vorteil.«
    »Ich hab die Züge gezählt. Sie würden gewinnen.«
    Der Lehrer in Platonow war empört. »Du hast dich verzählt. Wie konntest du das tun?«
    »Sie würden gewinnen.«
    »Schlag mich«, sagte der Papagei.
     
    Der Übertragungswagen war abgefahren. Die Turnierteilnehmer und ihre Anhänger waren gegangen. Das Mädchen, das gegen Schenja gespielt hatte, hatte eine halbe Stunde in der Kälte gewartet, dann jedoch frierend aufgegeben. Arkadi wartete bei seinem Wagen an der Straßenseite des Kasinoparkplatzes; Viktor und Platonow waren bei ihm geblieben. Anfangs hatten sie im Wagen gesessen, aber die Fenster waren bald beschlagen und undurchsichtig.
    »Der kleine Scheißer hat mir die Partie geschenkt«, sagte Platonow. »Das ist eine Beleidigung. Dann geht er aufs Klo und verschwindet.«
    Viktor wischte sich über die Nase und betrachtete die Minarette des Goldenen Khan. »Schneit es wohl in Samarkand? Das klingt wie der Titel eines Liedes, nicht wahr? >Wenn es wieder schneit in Samarkand<.«
    Trotz seiner schmerzenden Kehle musste Arkadi ihn fragen: »Hast du geniest? Als Schenja aufblickte, hat er dich da gesehen?«
    »Ich bin allergisch.«
    »Gegen was?«
    »Alles Mögliche. Bestimmte Eaux de Cologne.«
    Die Frage lag nahe, dachte Arkadi: Allergisch dagegen, sie zu riechen oder sie zu trinken?
    »Aber Schenja hat mich nicht gesehen«, sagte Viktor.
    »Ich brauche keine Barmherzigkeit«, sagte Platonow. »Und sie haben mich nicht

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