Stalins Geist
die Schach nicht aufmerksam verfolgen, fragen sich vielleicht, was Blitzschach ist.«
»In einem regulären Spiel … », soufflierte der Produzent. »In einem regulären Spiel«, sagte die Moderatorin, »hat der Spieler zwei Stunden Zeit für vierzig Züge. Beim Blitzschach hat er fünf Minuten. Als zusätzliche Motivation wird der Sieger im Falle des Remis durch Münzwurf ermittelt. Das Tempo ist, wie Sie sich vorstellen können, rasant und aufregend.«
»Wie ein Raubüberfall«, brummte Platonow. »K.o …. », sagte der Produzent.
»Der Wettkampf«, sagte sie, »verläuft nach dem K.-o.-System. Wer die weißen Figuren spielt, entscheidet sich ebenfalls durch das Werfen einer Münze - genauer gesagt, eines Spielchips. Weiß oder Schwarz -, wer verliert, ist draußen. Wir haben sechzehn Teilnehmer, Spieler aller Altersklassen, die die Vorrunden überstanden haben.«
Platonow starrte auf den Bildschirm. »Ein paar kenne ich. Wichser, Dilettanten, Anarchisten.«
Der Produzent runzelte die Stirn und sah ihn warnend an. Die Moderatorin sagte: »Der Sieger unseres Turniers gewinnt tausend Dollar, und das Casino des Goldenen Khan stiftet tausend Dollar an Unterkünfte für obdachlose Kinder in der ganzen Stadt.«
Tausend? So viel bleibt hier jeden Abend an losen Chips übrig, dachte Arkadi.
»Und es gibt noch einen besonderen Bonus. Der Sieger des Turniers spielt gegen den legendären Großmeister« - sie hielt inne, um zu hören, was der Produzent ihr einsagte - »Ilja Platonow. Sind wir so weit?«
Platonow sah eine andere Frage in Arkadis Blick. »Sie zahlen mir fünfhundert«, gestand er. »Als Honorar. Und sie sagen, ich kann über den Schachclub reden.«
Das bezweifelte Arkadi. Sie würden Platonow hinein- und wieder hinausführen wie einen Tanzbären.
Die Moderatorin hakte eine goldene Kordel los. »An Ihre Tische, bitte.«
Im Wagen spielte der Produzent Musik ein, die dahindudelte, während die Spieler durcheinanderwimmelten und die ihnen zugewiesenen Tische suchten. Eine Kamera erfasste einen Spieler, dessen zitternde Hände ihn schlecht rasiert hatten, dann ein Mädchen, das auf einer Haarsträhne kaute, einen rosenwangigen Universitäts studenten, der wie ein Buddha an seinem Brett saß. Die zweite Kamera richtete sich auf die Zuschauer: eine bange Mutter, die sich ein Taschentuch an den Mund drückte, eine Freundin mit einem Stapel Schachbücher auf den Knien und in der letzten Reihe, frisch aus der Ausnüchterungszelle, Viktor. Fünfzehn Spieler saßen auf ihren Plätzen. Einer fehlte.
» Einer scheint uns noch zu fehlen.« Die Moderatorin schaute auf die Platzkarte vor dem leeren Stuhl. »J. Lysenko. Ist hier ein J. Lysenko?«
Arkadi schrak zusammen. J. Lysenko war Schenja. War er da?
Der Gegner nahm es mit den Regeln genau. Er verschränkte die Arme und informierte die Moderatorin: »Sie müssen mir ein Freilos geben.«
»Wir müssen ihm für die erste Runde ein Freilos geben«, sagte der Produzent in sein Mikrofon. »Starte das Spiel. Los, Lydia! Wir brauchen Action.«
»Ja, anscheinend müssen wir Ihnen ein Freilos geben«, sagte sie ratlos. »Damit haben Sie die erste Runde überstanden, ohne einen Finger zu rühren.«
»Es ist noch nicht zehn Uhr«, sagte Arkadi im Wagen. »Es bleiben noch fünf Minuten. Sie fangen zu früh an.« Der Produzent winkte ab.
»Es ist noch nicht zehn«, beharrte Arkadi.
»Stumm hat mir Ihr Freund besser gefallen«, sagte der Produzent zu Platonow. »Schaffen Sie ihn hier raus.«
Arkadi zog ihm das Headset vom Kopf und sprach über das Mikrofon direkt mit der Moderatorin. »Warten Sie! Geben Sie ihm eine Chance.«
»Er ist da«, sagte sie.
In seinem Anorak mit halb hochgeschlagener Kapuze sah Jewgenij Lysenko aus wie ein Posten an einer trostlosen Grenze. Mit seinen zwölf Jahren war er klein und schmächtig, und sein Gang war ein zögerliches Schlurfen. Sein Haar war sandfarben, und er hatte ein unauffälliges Gesicht. Er hatte die Angewohnheit, den Blick gesenkt zu halten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und Arkadi begriff, dass er sich die ganze Zeit unter den Zuschauern befunden und im Schatten seiner Kapuze bis zur letzten Sekunde gewartet haben musste, ehe er seinen Platz einnahm.
»Wie kommt sein Name auf die Liste?«, fragte Platonow. »Entschuldigen Sie.« Arkadi reichte das Headset zurück.
Seine Kehle brannte.
»Lecken Sie mich am Arsch«, sagte der Produzent. Schenjas Gegner gewann beim Münzwurf und wählte Weiß. »Keine Zeit, deine
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