Stalins Geist
eine Entscheidung nach der anderen, und irgendwann ist man des Entscheidens müde. Der Körper wird müde, und das Gehirn gibt nach. Das Gehirn sagt: Was rackerst du dich hier ab, während du das Leben in vollen Zügen genießen könntest, mit Frauen und Liedern und gutem Champagner?«
»Was glauben Sie, wie der Universitätsmeister sich schlagen wird?«, fragte Arkadi.
»Gegen Schenja? Er hat keine Chance.«
Platonow hatte recht. Das Spiel war eine Enttäuschung. Obwohl sie allein unter der Deckenkamera spielten, zeigten die beiden Finalisten keine originelle oder interessante Strategie. Die Fernsehzuschauer verfolgten die systematische Demontage eines Universitätsstudenten durch einen kleinen Jungen, der nichts anderes tat, als ihn Zug um Zug vor schnelle Entscheidungen zu stellen. Mit jeder falschen Entscheidung verschlechterte sich die Position des Studenten ein wenig. Nach zwanzig Zügen hatte er nur einen Bauern weniger als Schenja, aber er konnte nirgends mehr hin. Jeder neue Zug bedeutete einen kleinen Verlust. Er war gefesselt mit unsichtbaren Knoten, die sich durch seinen Widerstand nur noch straffer zogen; er sah, dass seine Situation mit jedem Zug offenkundiger wurde. Vor den Augen seiner Freunde und Bewunderer. Vor den Professoren. Im Fernsehen. Er tat das Einzige, was rational noch zu begründen war, und zog zweimal mit derselben Figur.
»Doppelzug! Disqualifiziert!«, riefen der Produzent, Platonow, sämtliche Spieler und die Hälfte der Zuschauer im Saal.
»Wie schade«, sagte die Moderatorin. »Die Partie ist durch Disqualifikation entschieden, durch einen Fehler Tomaschewskis, der das Feld versehentlich seinem Gegner Jewgenij Lysenko überließ. Was für eine schreckliche Art, das Turnier zu verlieren, nachdem er sich so gut geschlagen hatte.«
Der Student Tomaschewski erhob sich fassungslos von seinem Stuhl - ein Mann, der seinem eigenen Eifer zum Opfer gefallen war, wie gelähmt vom Ausmaß seines Fehlers. Er hatte übereilt gespielt, das war alles. Das passierte den besten Spielern, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als ein guter Verlierer zu sein, auch wenn Schenja ihn verachtungsvoll anschaute, als er ihm die Hand reichen wollte.
»Jedenfalls haben wir den Sieger.« Die Moderatorin bemühte sich um Fröhlichkeit. »Und zum Glück haben wir noch eine Bonus-Partie zwischen dem jungen Jewgenij Lysenko und Großmeister Ilja Platonow.«
»Geht’s Ihnen gut?«, fragte Arkadi.
»Nur eine leichte Benommenheit«, sagte Platonow. »Hätten Sie eine Zigarette?«
Arkadi stieg mit ihm aus und begleitete ihn durch den kalten, scharfen Wind, der Schneeflocken über das schnörkelige Eis trieb. Beide Männer zogen grimmig an ihren Zigaretten. »Schenja hat sich nicht auf ein Turnier vorbereitet«, sagte Platonow. »Das Turnier stand überhaupt nie in Zweife!.«
Die Wachleute am Casinoeingang winkten und riefen Platonows Namen.
»Sie warten auf Sie.«
»Jemandem, der nicht spielt, ist es schwer zu erklären«, sagte Platonow. »Es kommt eine Zeit in Ihrem Leben, da haben Sie eine so perfekte Vorstellung vom Schach, dass Ihre Intuition genauso solide ist wie jede Partie aus dem Lehrbuch. Wie ein Musiker hören Sie die gesamte Suite in einem einzigen Augenblick. Es mag so aussehen, als machten Sie Ihre Züge hastig, aber Sie folgen einfach nur einer Partitur. Und dann, eines Tages, ist Ihr magisches Gehör verschwunden, und unversehens verhökern Sie Schachfiguren an Schulkinder, um Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Oder Schlimmeres.« Die Tür des Übertragungswagens flog auf, und der Produzent schrie Platonow zu, er solle ins Casino gehen. Platonow zog die Schultern hoch. »Eines Tages ist es einfach weg.«
Platonow spielte Weiß. Auf dem Weg vom Parkplatz zum Schachbrett schien er seine gewohnte Arroganz wiedergefunden zu haben und hüllte sich darin ein wie in ein Cape. Mit schnellen Zügen opferte er drei Bauern, öffnete das Mittelfeld und entwickelte seine Stellung, während Schwarz noch dabei war, seine leichte Beute zu verdauen. Zum ersten Mal in diesem Turnier schien Schenja überrascht zu sein. Arkadi stand im Schatten einer Säule, wo der Junge ihn nicht sehen konnte, und verfolgte das Spiel auf dem Bildschirm in der Übertragung der Deckenkamera. Wenn er erwartet hatte, dass der alte Mann auf Nummer sicher gehen und einen mühsamen Sieg herausschinden würde, hatte er sich geirrt. Platonow hatte Schenja einen gewaltigen Materialvorteil gewährt. Andererseits hatten Schenjas
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