Stalins Geist
Gesetzgeber davor, wegen eines Verbrechens verhaftet zu werden, solange sie nicht auf frischer Tat ertappt wurden, zum Beispiel bei einem Mord oder einer Vergewaltigung. Was alte Fälle wie die Kusnezows, Ginsberg oder Borodin anging, so würde niemand die Asche durchsieben. Diese Fälle waren abgeschlossen und würden bald in Vergessenheit geraten.
Das Handy klingelte wieder. Er hoffte, dass es Eva war, aber auf dem Display stand »Schenja« - der Letzte, mit dem Arkadi jetzt sprechen wollte. Er hatte keine Lust, über Schach zu reden, und bei Schenja hatte alles mit Schach, Schachbüchern oder Schachturnieren zu tun. Also ließ er das Telefon klingeln. Er wollte nicht Schenjas Schachcoach, Vater oder Onkel sein. Sein Freund, das war genug. Das Telefon klingelte wieder. Warum war Schenja so hartnäckig? Es war Mitternacht. Es klingelte, bis Arkadi kapitulierte.
»Bist du in der Nähe vom Brosno-See?«, flüsterte Schenja. »Ich hab keine Ahnung.«
»Stell fest, ob du in der Nähe vom Brosno-See bist«, sagte Schenja.
»Okay.«
»Gestern in einer Fernsehsendung haben sie gesagt, der Brosno-See ist in der Nähe von Twer.«
»Dann stimmt das vermutlich«, sagte Arkadi. »Was ist denn damit?«
»Im Brosno-See gibt es ein Ungeheuer wie in Loch Ness, aber besser. Es gibt Bilder davon, und alle alten Leute haben es gesehen.«
»Wieso ist es besser?«
»Das Ungeheuer vom Brosno-See kommt an Land.«
»Na, da hast du’s.«
»Im Krieg ist es herausgekommen und hat ein faschistisches Flugzeug aus der Luft geholt.«
»Ein patriotisches Ungeheuer.« Stalin hatte nicht nur die orthodoxe Kirche und alle ihre Heiligen für sich eingespannt, sondern auch die Ungeheuer der Nation. »Wie groß ist es?«
»So groß wie ein Haus.«
»Hat es Beine?«
»Das weiß niemand. Ein paar Wissenschaftler wollen mit einem Boot voller elektronischer Geräte hinausfahren und nach Anomalien suchen.«
»Nach Anomalien?« Ein gutes Wort.
»Wäre es nicht irre, wenn das Ungeheuer herauskäme?«
»Um das Land zu verwüsten und Panik und Furcht zu verbreiten?«
»Wir müssten es bombardieren. Das wäre so cool.«
»Schenja, wir können nur hoffen.«
Nach dem Telefonat war Arkadi zu nervös zum Schlafen. Die Straßenbahnen fuhren nicht mehr. Er ließ den Wagen am Bahnhof stehen und ging zu Fuß, ohne ein besonderes Ziel zu haben. Es hatte wenig Sinn, sich ein anderes Hotel zu suchen; so viele gab es in Twer nicht, und Sarkisian konnte sie alle innerhalb von Minuten alarmieren. Er könnte nach Moskau zurückfahren.
Die Straße führte, wie anscheinend alle Straßen in Twer, zum Fluss. Die Wolga nahm im Stadtzentrum zwei kleinere Flüsse auf, und von ihnen gespeist, rauschte sie eilig am Uferdamm entlang, dem fernen Kaspischen Meer entgegen. Es war kein Wunder, dass Arkadi sich dorthin gezogen fühlte. Palast, Parks, Statuen, zwei beleuchtete Brücken - fast alles in Twer schaute zum Fluss, freundliche Gesichter, die in einen silbernen Spiegel blickten.
Es gab zwei Möglichkeiten: Er konnte Isakow angreifen oder Eva verfolgen. Beide Möglichkeiten waren schamlos, aber auf unterschiedliche Weise. Da er weder die nötigen Beweise noch die Befugnis besaß, sich den Kriminalpolizisten auf offiziellem Weg vorzunehmen, musste er Isakow zu einem Fehler provozieren. Oder er konnte Isakow und das Recht vergessen und sich auf Eva konzentrieren. Sie hatte mit einem anderen Mann geschlafen? In seinem Alter bedeutete das immer weniger. Jeder hatte seine Geschichte.
Er konnte seine Würde behalten oder sie. Er hatte die Wahl.
Achtzehn
Sofia Andrejewna sagte: »Ich zeige schöne Wohnungen nicht jedem x-Beliebigen. Ich schaue immer zuerst auf die Schuhe. Wenn jemand seine eigenen Schuhe nicht pflegt, wie will er dann eine Wohnung pflegen? »
»Absolut«, sagte Arkadi, obwohl er sich darauf nichts zugute halten konnte; jeder Sohn eines Generals wienerte seine Schuhe automatisch.
Sie zwinkerte Arkadi zu und summte vor sich hin, während sie fuhr. Ihr Wagen war der sauberste Lada, den Arkadi je gesehen hatte. Keine Zigarettenpackungen, Bierdosen, vergilbte Zeitungen, kein Rost im Bodenblech. Ein bisschen wie Sofia Andrejewna selbst. Die einst ausgeprägte Nase war zu einem Geierschnabel geworden, aber sie hatte frisch blühendes Rouge auf den Wangen, und mit dem schwarzen Schultertuch sah sie aus wie eine fröhliche Hinterbliebene. Sie war Maklerin, und das bedeutete, dass sie jeden Zug abwartete, der im Bahnhof von Twer einfuhr, und die
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