S.T.A.L.K.E.R. 03 - Apokalypse
der reglosen Gestalt ab, die auf dem Tisch lag. Geringe Ausschläge auf dem Überwachungsmonitor zeigten an, dass die Person noch lebte, aber bereits an der Schwelle zum Tode stand. Die nässenden Geschwüre in ihrem Gesicht weckten unangenehme Erinnerungen.
Kein Zweifel, das war die Frau aus dem Glastank.
Kims Blick glitt über einen leeren Beistelltisch, die OP-Leuchten und das nahe Sideboard. Rasch öffnete sie einige Schubladen, die aber nur sterile Tücher und Medikamentenpackungen enthielten. In einem der Hängeschränke hatte sie mehr Glück. Dort gab es eine große Metallbox, in der sie nicht nur ein rasiermesserscharfes Skalpell, sondern auch einen Ausschabungslöffel fand. Nur eine Tür weiter lachte ihr eine elektrische Knochensäge entgegen.
Vorsichtig stopfte sie den stabilen Schablöffel und die kleine Maschine mit dem runden Sägeblatt in ihre geräumigen Hosentaschen. Das gut in der Hand liegende Skalpell nahm sie so zwischen die Finger, dass der scharfe Stahl nur wenige Zentimeter über sie hinausragte.
Ein potenzieller Gegner musste schon sehr genau hinsehen, um die gefährliche Waffe zu entdecken. Mit etwas Glück würde er sie erst bemerken, wenn sie schon bis zum Stiel in seiner Halsschlagader steckte.
Jetzt war sie nicht mehr wehrlos, sondern gewappnet. Trotzdem hätte Kim einiges dafür gegeben, David an ihrer Seite zu wissen.
„David?" Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, trotzdem wirbelte Kim erschrocken herum. Das Skalpell in ihrer Hand schnitt sinnlos durch die Luft, denn sie stand weiterhin ganz allein in dem abgedunkelten Raum.
Nur die Alte auf dem Tisch war noch da. Und der Monitor, der plötzlich zwei ansteigende Lebenskurven zeigte.
„Daaavid?" Von einem Rasseln in der Lunge begleitet, hallte der Name erneut durch den Raum. Die Lippen der alten Frau bewegten sich unmerklich, dennoch war zweifellos sie es, die da rief. Wieder und wieder. „David, bist du endlich gekommen, mich zu holen?"
Kim spürte, wie sich die feinen Härchen auf ihrem Arm aufstellten, trotzdem trat sie näher an den Operationstisch heran. Wer war diese Frau, die im gleichen Moment nach einem David rief, in dem Kim an David Rothe dachte?
Der Kopf der Alten ruckte herum. „David?", rief sie lauter als zuvor. „Bist du hier, mein Junge?"
Erschrocken riss Kim das Skalpell in die Höhe und stolperte einen Schritt zurück. Unter ihrer Hirnschale begann es sanft zu kribbeln. Genau an der Stelle, an der sie ihre PSI-Kräfte abstrahlte. Verdammt, die Alte auf dem Tisch, halbtot oder nicht, versuchte sie mental zu scannen!
Kim schottete sich so gut wie möglich ab und zielte mit dem Skalpell auf den ungeschützten Hals der Fremden. Auf dem Bildschirm ging es inzwischen zu wie bei einem vorsintflutlichen Telespiel. Die beiden hellen Punkte, die Hirn- und Herzfrequenz markierten, schlugen immer heftiger nach oben und unten aus.
„David?" Die Augenlider der Frau begannen zu flattern. „Dobrynin ist ein Meister der Lüge. Glaub ihm kein Wort, egal, was er dir auch erzählt."
Für ein paar von Schrecken erfüllte Sekunden wurde Kim tatsächlich von der Vision gequält, dass sich die vor ihr liegende Frau erheben und auf sie zuwanken könnte. Stattdessen sprangen ihre zitternden Lider auf. Darunter kamen keine Pupillen zum Vorschein, sondern weit nach oben in die Höhlen gedrehte Augen, die nur noch weißes Bindegewebe sehen ließen.
„David!", schrie die Alte ein letztes Mal in unangenehm hoher Lautstärke, dann glitt ein Ausdruck der Enttäuschung über ihr Gesicht.
„Nein, du bist nicht mein Sohn", erkannte sie, merklich erschlaffend. „David wird niemals zu Hilfe kommen. Wahrscheinlich ist er längst tot, so wie sein Vater."
„Frau Rothe?", fragte Kim überrascht. „Sind Sie das?"
Sie suchte vergeblich nach einem Krankenblatt oder etwas anderem, das ihr Auskunft über den Namen der Frau geben konnte.
„Dobrynin hat gelogen", jammerte die Frau, im gleichen Maße leiser werdend, in dem die Monitorausschläge an Kraft verloren. „Das Kollektiv hat niemanden gerettet. Weder meinen Sohn noch meinen Mann. David wird niemals kommen, und ich muss einsam sterben."
Kim verlor auf einmal jede Scheu vor dem abstoßenden Körper. Hastig sprang sie auf die Frau zu und schüttelte sie an der Schulter.
„David ist nicht tot!", rief sie laut. Viel zu laut für jemanden, der sich verbergen musste. „Er ist am Leben, und er kommt uns holen. Sie und mich! Und meine eigene Mutter."
Doch es war zu spät.
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