Starbuck. Der Verräter (German Edition)
an, dass ein Angriff daher praktisch undenkbar war. Vor jedem Angriff tauchten ein paar Deserteure auf, die von den Vorbereitungen des Gegners berichteten, doch in den letzten Tagen war es an der Front zwischen den beiden Armeen ungewöhnlich ruhig geblieben.
«Sie haben recht, Jimmy, Sie haben recht.» Pinkerton drehte sich wieder zum Tisch. «Wahrscheinlich ist es nur die Geschützmannschaft eines Kanonenbootes bei einer Übung. Und sollte es etwas Bedeutsameres sein, werden wir es zweifellos bald genug erfahren.» Er nahm eine Ausgabe des
Republican
aus Jacksonville zur Hand, die schon eine Woche alt war, und begann einen großsprecherischen Artikel darüber zu lesen, wie ein Blockadebrecher vor der Küste von South Carolina den Kriegsschiffen des Nordens entwischt war. Das Schiff hatte Segeltuch aus Genua, französische Schuhe, britische Zündhütchen, Guttapercha aus Malaysia und Kölnischwasser geladen. «Was wollen sie denn mit Kölnischwasser?», fragte Pinkerton. «Warum in Gottes Namen wollen sie so etwas haben?»
James antwortete nicht. Er gab sich seinem Mittagessen hin und hatte sich gerade noch einmal von dem Grillhühnchen genommen, als plötzlich die Tür zum Salon aufgerissen wurde und ein großer, hagerer Colonel hereinkam. Der Colonel trug Reitstiefel und hatte eine Peitsche in der Hand. Seine Uniform war von einem schnellen Ritt über und über mit rotem Schlamm bespritzt. «Wer zum Teufel sind Sie?» Pinkerton sah von seiner Zeitung auf.
«Thorne. Lieutenant Colonel Thorne. Generalinspektion Washington. Und wer zum Teufel sind Sie?»
«Pinkerton.»
«Also, Pinkerton, wo ist Starbuck?»
«Sir? Ich bin Starbuck, Sir», sagte James, zog sich die Serviette aus dem Halsausschnitt und stand auf.
«Sie sind Nathaniel Starbuck?», fragte Colonel Thorne grimmig.
James schüttelte den Kopf. «Nein, Sir, ich bin sein Bruder.»
«Wo zur Hölle ist dann Nathaniel Starbuck? Haben Sie ihn verhaftet?»
«Verhaftet?», fragte Pinkerton.
«Ich habe Ihnen gestern telegraphiert. Kümmert sich denn hier niemand um die Arbeit?», fragte Thorne verbittert, obwohl ihm bewusst war, dass Delaneys Brief, der Starbuck als Verräter entlarvte, viel zu lange ungeöffnet auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. «Also, wo zum Teufel ist er?»
James hob eine bebende Hand zum hinteren Teil des Hauses. «Im Stallgebäude, glaube ich.»
«Dann bringen Sie mich dorthin!» Thorne zog einen Revolver aus einem Gürtelhalfter und steckte über einer Kammer der Trommel ein Zündhütchen auf das Piston.
«Dürfte ich fragen …», begann James besorgt.
«Nein, Sie dürfen verdammt noch mal nicht fragen! Führen Sie mich zu dem Stallgebäude!», brüllte Thorne. «Ich bin nicht den ganzen Weg von Washington hierhergekommen, um Sie schlottern zu sehen wie eine Jungfrau in der Hochzeitsnacht. Und jetzt Bewegung!»
James rannte zum Stallgebäude.
Die Tür zu der Box, in der sein Pferd gestanden hatte, schwang knarrend im Wind. Die Box war leer. «Er wollte feststellen, was es mit dem Artilleriefeuer auf sich hat», sagte James mit schwacher Stimme. Thornes wilder Gesichtsausdruck jagte ihm Angst ein.
«Er ist um sechs Uhr zurück», sagte Pinkerton beruhigend zu Thorne.
«Beten Sie lieber, dass es so ist», sagte Thorne. «Wo ist McClellan? Er muss mir einen Trupp Kavalleristen geben, damit wir den verräterischen Bastard verfolgen können.»
«Aber warum?», fragte James. «Warum? Was hat er denn getan?»
Doch der Colonel war schon weg. In der Ferne krachten die Kanonen, und in derselben Richtung zogen nun weiße Rauchschwaden über den Wald. Nate war nach Westen geritten, ein schreckliches Verhängnis schien sich anzubahnen, und James rutschte das Herz in die Hose. Er betete darum, dass seine Ängste unbegründet waren, und dann suchte er sich ein Pferd.
Die konföderierte Infanterie bewegte sich im Laufschritt über das Gelände, das an manchen Stellen fest und an anderen morastig war. Die Yankee-Wachtposten sahen, wie sich die Reihe graubraun Uniformierter aus dem Wald löste, und hasteten zurück, um ihre Kameraden vor dem Rebellenvorstoß zu warnen.
In den Feldlagern der Union, die sich rund um den Bahnhof von Fair Oaks ausgebreitet hatten, wurde Alarm geblasen. General McClellan hatte diese Männer sorgfältig ausgebildet und wäre stolz darauf gewesen, wie sie zu den Waffen eilten. Ganze Regimenter ließen die Briefe fallen, die sie gerade schrieben, und den Kaffee, den sie kochten, und die Baseballs und die
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