Starkes Gift
Samowar; vor dem Gasofen stand eine undeutliche Gestalt und drehte mit einer Gabel Würstchen in einer Pfanne um, während jemand anders auf irgend etwas in der Backröhre aufpaßte, das Wimseys feine Nase unter den anderen Gerüchen in dieser Mischatmosphäre sogleich als Räucherhering identifizierte. Am Klavier, das gleich hinter der Tür stand, saß ein junger Mann mit buschigem rotem Haarschopf und spielte irgend etwas Slawisches zum Violinobligato einer unvorstellbar schlaksigen Person undefinierbaren Geschlechts mit buntem Pullover. Niemand beachtete ihr Eintreten. Marjorie stieg über das Gewirr von Armen und Beinen auf dem Boden hinweg, griff sich eine magere junge Frau in Rot und brüllte ihr etwas ins Ohr. Die junge Frau nickte und winkte Wimsey heran. Er bahnte sich einen Weg und wurde der mageren jungen Frau mit den schlichten Worten vorgestellt: »Das ist Peter – Nina Kropotky.«
»Sehr erfreut«, schrie Madame Kropotky durch den Lärm. »Setzen Sie sich zu mir. Wanja bringt uns etwas zu trinken. Schön, nicht? Das ist Stanislas – so ein Genie – sein neues Werk über die U-Bahn-Station Piccadilly – herrlich, n´est-cepas ? Fünf Tage lang ist er auf der Rolltreppe rauf und runter gefahren, um die Tonwerte in sich aufzunehmen.«
»Kolossal!« brüllte Wimsey.
»So – finden Sie? Ah, Sie verstehen etwas davon! Wissen Sie, eigentlich ist das für großes Orchester gedacht. Auf dem Klavier klingt es nach nichts. Da müssen Blechbläser her, die Effekte, die Crescendi – trrrrr! – So! Aber man bekommt den Gesamteindruck mit, die Umrisse. Ah, jetzt geht es zu Ende! Großartig! Superb!«
Der gewaltige Lärm verebbte. Der Pianist trocknete sich das Gesicht und sah sich mit wildem Blick um. Der Geiger legte seine Geige hin, stand auf und entpuppte sich, den Beinen nach zu urteilen, als Geigerin. Das Publikum begann schlagartig durcheinanderzureden. Madame Kropotky sprang über die am Boden sitzenden Gäste und küßte den schwitzenden Stanislas auf beide Wangen. Die brutzelnde, fettspritzende Bratpfanne wurde vom Gasofen genommen, ein allgemeiner Ruf nach Wanja ertönte, und bald wurde ein totenblasser Mann zu Wimsey dirigiert, und eine tiefe, kehlige Stimme bellte: »Was wollen Sie trinken?«, während zugleich ein Teller mit Räucherheringen bedenklich schwankend über seiner Schulter erschien.
»Danke«, sagte Wimsey, »ich habe eben erst gegessen – eben erst gegessen « , schrie er verzweifelt. »Satt – complet !«
Marjorie eilte ihm mit schriller tönender Stimme und entschiedener vorgebrachter Ablehnung zu Hilfe.
»Nimm die entsetzlichen Dinger weg, Wanja. Mir wird ganz schlecht davon. Bring uns einen Tee – Tee – Tee!«
»Tee!« echote der totenblasse Mann. »Tee wollen sie haben! Was haltet ihr von Stanislas’ Tondichtung? Kraftvoll und modern, wie? Die Seele der Rebellion in den Massen – der Zusammenprall, die Revolte im Herzen der Maschinerie. Das wird der Bourgeoisie etwas zu denken geben, jawohl!«
»Pah!« sagte eine Stimme in Wimseys Ohr, als der Totenblasse sich abwandte. »Das ist doch gar nichts. Bourgeoise Musik. Programmusik. Hübsch! – Da solltet ihr mal Wrilowitschs ›Ekstase über den Buchstaben Z‹ hören. Das ist reine Vibration, ohne jeden antiquierten Formalismus. Stanislas – er hält ja sehr viel von sich, aber das ist doch alles uralt. Man spürt die Auflösung hinter jeder seiner Dissonanzen. Reine Harmonik, nur verschleiert. Nichts dahinter. Aber er wickelt sie alle ein, bloß weil er rote Haare hat und seinen knochigen Körperbau so zur Schau stellt.«
Diesbezüglich irrte der Sprecher sicher nicht, denn er war kahl und rund wie eine Billardkugel. Wimsey erwiderte beschwichtigend:
»Nun ja, aber was soll man mit den erbärmlichen, antiquierten Instrumenten unserer Orchester schon anfangen? Eine diatonische Tonleiter, bah! Dreizehn jämmerliche bourgeoise Halbtöne, puh! Um die unendliche Komplexität moderner Emotionen auszudrücken, brauchte man zweiunddreißig Töne für jede Oktave.«
»Aber wozu überhaupt an der Oktave kleben?« antwortete der Dicke. »Solange man die Oktave und ihre sentimentalen Assoziationen nicht abwirft, bewegt man sich in den Fesseln der Konvention.«
»Das ist der richtige Geist!« rief Wimsey. »Ich würde überhaupt mit allen festgelegten Tönen aufräumen. Schließlich braucht sie der Kater auch nicht für seine ausdrucksvollen mitternächtlichen Melodien. Der Liebeshunger des Hengstes kümmert sich nicht um
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