Starkes Gift
manchmal wie eine richtige Märtyrerin vor, daß ich so was auf mich nehme. Jedenfalls hast du Vaughan kennengelernt. Ein richtig armes Würstchen, findest du nicht?«
»Doch, aber ich glaube nicht, daß er Philip Boyes ermordet hat. Du vielleicht? Ich mußte ihn erst sehen, um sicher zu sein. Wohin jetzt?«
»Wir versuchen’s mal bei Joey Trimbles. Das ist die Festung des gegnerischen Lagers.«
Joey Trimbles hatte sein Atelier über einem Pferdestall.
Hier herrschten das gleiche Gedränge, der gleiche Mief, noch mehr Räucherheringe, noch mehr Schnaps, noch mehr Hitze und Stimmengewirr. Hinzu kamen hier grelles elektrisches Licht, ein Grammophon, fünf Hunde und ein starker Ölfarbengeruch. Sylvia Marriott wurde erwartet. Wimsey fand sich bald in eine Diskussion über freie Liebe, D. H. Lawrence, die Lüsternheit der Prüderie und die unmoralische Bedeutung langer Röcke verwickelt. Nach einer Weile wurde er jedoch durch die Ankunft einer maskulin aussehenden Frau mittleren Alters erlöst, die ein düsteres Lächeln im Gesicht und ein Päckchen Karten in der Hand hatte und jedem der Reihe nach die Zukunft weissagte. Man versammelte sich eben um sie, als ein Mädchen kam und Bescheid sagte, daß Sylvia sich einen Fuß verstaucht habe und nicht kommen könne. Alle sagten mitfühlend: »Wie gräßlich, das arme Ding«, um das Thema sofort wieder zu vergessen.
»Komm, wir hauen ab«, sagte Marjorie. »Du brauchst nicht auf Wiedersehen zu sagen. Das hört sowieso keiner. Glück für uns, die Sache mit Sylvia. Jetzt ist sie wenigstens zu Hause und kann uns nicht entwischen. Manchmal wär’s mir ganz recht, die würden sich alle die Füße verstauchen. Und trotzdem muß man sagen, daß diese Leute fast alle sehr gut arbeiten. Sogar bei den Kropotkys. Früher habe ich solche Zusammenkünfte selbst genossen.«
»Wir werden eben alt, wir beide«, sagte Wimsey. »Entschuldigung, das war nicht nett. Aber weißt du, Marjorie, ich gehe auf die Vierzig zu.«
»Du hältst dich gut. Aber heute abend siehst du ein bißchen mitgenommen aus, Peter. Was ist los mit dir?«
»Nichts als Alterserscheinungen.«
»Wenn du nicht aufpaßt, wirst du noch seßhaft.«
»Oh, das bin ich schon seit Jahren.«
»Bei Bunter und deinen Büchern. Manchmal beneide ich dich, Peter.«
Wimsey sagte nichts darauf. Marjorie sah ihn fast erschrocken an und schob ihren Arm unter den seinen.
»Peter – sei bitte fröhlich. Ich meine, du warst immer so ein Mensch, dem nichts etwas anhaben konnte. Werde nicht anders, bitte!«
Das war nun das zweitemal, daß Wimsey gebeten wurde, sich nicht zu ändern; das erstemal hatte die Bitte ihn über die Maßen gefreut; diesmal machte sie ihm Angst. Während das Taxi das regennasse Embankment entlangfuhr, fühlte er zum erstenmal jene dumpfe, zornige Hilflosigkeit, die das erste Warnsignal für den Triumph der Veränderung ist. Wie der vergiftete Athulf in der Narrentragödie hätte er schreien mögen: »Oh, ich wandle mich, wandle mich, wandle mich so schrecklich.« Ob sein derzeitiges Unternehmen fehlschlug oder gelang, nichts würde danach mehr so sein wie vorher. Nicht daß eine unglückliche Liebe ihm das Herz brechen würde – er hatte die schwelgerischen Leiden der Jugend hinter sich, und gerade in dieser Freiheit von Illusionen erblickte er nun einen Verlust. Von nun an würde jede unbeschwerte Stunde kein Vorrecht mehr sein, sondern eine Errungenschaft – noch eine Axt, eine Korbflasche oder eine Schrotflinte nach Crusoe-Art von einem sinkenden Schiff gerettet.
Zum erstenmal zweifelte er auch an sich und wußte nicht, ob er das, was er sich vorgenommen hatte, auch schaffen würde. Schon in früheren Fällen waren seine persönlichen Gefühle beteiligt gewesen, aber sie hatten ihm noch nie den Verstand vernebelt. Er tappte im dunkeln, griff unsicher hierhin und dorthin nach flüchtigen, absurden Möglichkeiten. Er stellte Fragen, wie sie ihm gerade einfielen, ohne bestimmtes Ziel, und die Kürze der Zeit, die ihn früher angeregt hätte, ängstigte und verwirrte ihn jetzt.
»Entschuldige, Marjorie«, sagte er, indem er sich hochrappelte, »ich glaube, ich bin heute ein richtiger Langweiler. Wahrscheinlich Sauerstoffmangel. Stört es dich, wenn wir das Fenster ein wenig öffnen? So ist es besser. Man braucht mir nur gut zu essen und ein bißchen frische Luft zum Atmen zu geben, und ich werde bis in ein schändliches hohes Alter herumtollen wie ein Zicklein. Die Leute werden mit Fingern auf mich
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