Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
Vom Netzwerk:
wurden noch einmal lauter, als er unterm Fenster vorbeiging, und entfernten sich in Richtung Brownslow Street. Miss Murchison tippte weiter, bis er nach ihrer Berechnung sicher in der U-Bahn nach Chancery Lane sitzen mußte. Dann erhob sie sich, blickte sich rasch nach allen Seiten um und ging auf ein hohes Regal zu, auf dem lauter schwarze Dokumentenkassetten standen, jede in auffallenden weißen Lettern mit dem Namen eines Klienten beschriftet.
    Die Kassette WRAYBURN war da, aber sie hatte auf geheimnisvolle Weise den Platz gewechselt. Das war ein Rätsel an sich. Sie erinnerte sich genau, vor Weihnachten die Kassette auf den Stapel MORTIMER – Scroggins – Lord Coote – Dolby Bros. – Wingfield gestellt zu haben; nun aber, am ersten Tag nach Weihnachten, stand sie zuunterst in einem Stapel, und auf ihr türmten sich die Kassetten BODGERS – Sir J. PENKRIDGE – Flatsby COATEN – Trubody Ltd. und UNIVERSAL Bone Trust. Jemand hatte hier offenbar über die Feiertage einen Frühjahrsputz veranstaltet, und Miss Murchison hielt es nicht für sehr wahrscheinlich, daß es Mrs. Hodges gewesen war.
    Das war ärgerlich, denn die Regale waren alle voll, und sie würde darum sämtliche Kassetten herunternehmen und irgendwo abstellen müssen, bevor sie an die Kassette WRAYBURN herankam. Und bald würde Mrs. Hodges kommen, und obwohl Mrs. Hodges eigentlich nicht wichtig war, könnte es doch komisch aussehen …
    Miss Murchison zog den Stuhl von ihrem Schreibtisch zu den Regalen (denn das Gestell war ziemlich hoch), stellte sich darauf und nahm die Kassette UNIVERSAL Bone Trust herunter. Sie war ziemlich schwer, und der Stuhl (ein drehbares Modell, aber nicht von der modernen Sorte, mit einem spindeldürren Bein und einer hart gefederten Rückenlehne, die sich einem ins Kreuz bohrte und dafür sorgte, daß man bei der Arbeit nicht einschlief) wackelte bedenklich, als sie die Kassette herunternahm und sie vorsichtig auf den schmalen Schrank bugsierte. Wieder griff sie nach oben, nahm TRUBODY Ltd. herunter und stellte sie auf BONE Trust. Zum drittenmal griff sie hinauf und packte FLATSBY COATEN . Als sie sich damit bückte, erklangen Schritte an der Tür, und eine erstaunte Stimme hinter ihr sagte:
    »Suchen Sie etwas, Miss Murchison?«
    Miss Murchison erschrak so heftig, daß der tückische Stuhl eine viertel Drehung vollführte und sie beinahe in Mr. Ponds Arme katapultiert hätte. Unbeholfen stieg sie herunter, die schwarze Kassette noch immer fest in den Händen.
    »Wie haben Sie mich erschreckt, Mr. Pond! Ich dachte, Sie wären schon fort.«
    »War ich auch«, sagte Mr. Pond, »aber in der U-Bahn-Station habe ich gemerkt, daß ich hier ein kleines Päckchen liegengelassen habe. Wie ärgerlich – deswegen mußte ich noch mal zurückkommen. Haben Sie es vielleicht gesehen? Ein kleines rundes Glasgefäß, mit braunem Papier umwickelt.«
    Miss Murchison stellte FLATSBY COATEN auf den Stuhl und sah sich um.
    »In meinem Schreibtisch ist es anscheinend nicht«, sagte Mr. Pond. »Mein Gott, werde ich mich verspäten! Aber ohne das Ding kann ich auch nicht nach Hause kommen – wir brauchen es zum Abendessen – es ist nämlich ein Gläschen Kaviar. Wir haben heute abend Gäste. Wo könnte ich es denn nur hingetan haben?«
    »Vielleicht haben Sie es zum Händewaschen abgestellt«, riet Miss Murchison hilfsbereit.
    »Hm, ja, das könnte sein.« Mr. Pond rauschte hinaus, und sie hörte die Tür zu dem kleinen Waschraum auf dem Flur mit lautem Quietschen aufgehen. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie ihre Handtasche offen auf dem Schreibtisch hatte stehenlassen. Wenn nun die Dietriche herausschauten? Sie wollte eben zum Schreibtisch stürzen, als Mr. Pond triumphierend zurückkehrte.
    »Vielen Dank für Ihren Tip, Miss Murchison. Da war es wirklich. Meine Frau hätte sich ja so geärgert. Also nochmals, gute Nacht.« Er wandte sich zur Tür. »Ach ja, haben Sie eigentlich vorhin etwas gesucht?«
    »Ja, eine Maus«, antwortete Miss Murchison mit nervösem Kichern. »Ich saß da und schrieb, und da lief sie auf einmal hier oben auf dem Schrank entlang und – äh – die Wand hinauf und hinter die Kassetten.«
    »Diese gemeinen kleinen Biester«, sagte Mr. Pond. »Das Haus wimmelt von ihnen. Ich habe schon oft gesagt, wir brauchen hier mal eine Katze. Aber jetzt kriegen Sie sie nicht mehr. Anscheinend haben Sie keine Angst vor Mäusen?«
    »Nein«, sagte Miss Murchison, indem sie mit einer bewußten körperlichen Anstrengung

Weitere Kostenlose Bücher