Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
Vom Netzwerk:
und wuchtigen Marmor- und Bronzestatuetten; bemalte Wandschirme, Sheraton-Kommoden, chinesische Vasen, Alabasterlampen, Stühle, Ottomanen jeder Form, Farbe und Periode, alles dichtgedrängt wie um ihr Leben ringende Pflanzen in einem tropischen Dschungel. Es war das Zimmer einer Frau ohne Geschmack und Maß, einer Frau, die nichts verschmähte und nichts hergab, für die Besitz zur einzigen beständigen Realität in einer Welt der Vergänglichkeit und des Wandels geworden war.
    »Es könnte hier oder im Schlafzimmer sein«, sagte Miss Booth. »Ich hole mal ihre Schlüssel.«
    Sie öffnete eine Tür auf der rechten Seite. Miss Climpson in ihrer unendlichen Neugier schlich ihr nach.
    Das Schlafzimmer war noch deprimierender als das Wohnzimmer. Eine kleine elektrische Lampe verströmte ihr spärliches Licht neben einem großen, vergoldeten Bett mit rosa Brokatvorhängen, die kaskadenartig von einem Baldachin herunterhingen, den ein paar pummelige goldene Amoretten trugen. Außerhalb des kleinen Lichtkegels standen finster drohend riesige Kleiderschränke, noch mehr Vitrinen, noch mehr Kommoden. Der verspielte und verschnörkelte Toilettentisch nannte einen dreiteiligen Spiegel sein eigen, und ein enormer Drehspiegel in der Mitte des Zimmers reflektierte die monströsen Umrisse des Mobiliars.
    Miss Booth öffnete die mittlere Tür des größten Kleiderschranks. Sie schwang mit leisem Quietschen auf und entließ eine schwere Wolke von Jasminduft. Offenbar war in diesem Zimmer nie mehr etwas verändert worden, seit Schweigen und Lähmung ihre Bewohnerin niedergestreckt hatten.
    Miss Climpson trat vorsichtig ans Bett. Ein Instinkt hieß sie so leise schleichen wie eine Katze, obwohl es offensichtlich war, daß nichts die darin liegende Frau erschrecken oder auch nur überraschen konnte.
    Ein altes, uraltes Gesicht, so winzig auf den riesigen Kissen und Laken, daß es eine Puppe hätte sein können, sah aus starren, blinden Augen zu ihr auf. Es war von feinen Fältchen überzogen wie eine Hand, die zu lange in Seifenwasser gelegen hat, aber alle die scharfen Linien und Falten, die das Leben in dieses Gesicht geschnitzt hatte, waren durch das Erschlaffen der hilflosen Muskeln geglättet. So war das Gesicht gedunsen und runzlig zugleich. Es erinnerte Miss Climpson an einen rosa Kinderluftballon, aus dem fast alle Luft entwichen war. Hinzu kamen die schnaubenden Laute, die ihre erschlafften Lippen beim Ausatmen machten. Unter dem spitzenbesetzten Nachthäubchen lugten ein paar dünne weiße Haarsträhnen hervor.
    »Eigenartig, nicht wahr?« sagte Miss Booth. »Sich vorzustellen, daß sie hier so liegt und ihr Geist mit uns Verbindung aufnehmen kann.«
    Miss Climpson kam sich plötzlich vor wie eine Frevlerin. Es kostete sie die allergrößte Überwindung, sich nicht einfach hinzustellen und die Wahrheit zu gestehen. Sie hatte das Strumpfband mit der Seifendose sicherheitshalber oberhalb des Knies gezogen, und nun schnitt es schmerzhaft in ihre Beinmuskeln – als wollte es sie an die Schändlichkeit ihres Tuns erinnern.
    Aber Miss Booth hatte sich schon umgedreht und die Schubladen einer der Kommoden aufgezogen.
    Zwei Stunden vergingen, und sie suchten immer noch. Der Buchstabe B eröffnete ein besonders weites Feld von Möglichkeiten. Miss Climpson hatte ihn aus diesem Grunde gewählt, und ihr Weitblick wurde belohnt. Mit ein wenig Erfindungsgabe konnte man diesen nützlichen Buchstaben fast auf jedes denkbare Versteck im Haus anwenden. Was nicht unter Bezeichnungen wie Büro, Boudoir, Bett, Bad, Boden und so weiter fiel, war dann entweder braun, beige, blau, bunt, oder ließ sich notfalls einfach als Behälter bezeichnen, und da jedes Schubfach oder Regal in diesem Haus mit Zeitungsausschnitten, Briefen und allerlei Souvenirs vollgestopft war, taten den beiden Fahnderinnen vor Anstrengung schon bald Kopf, Beine und Rücken weh.
    »Ich hätte nie geahnt«, sagte Miss Booth, »daß es so viele Versteckmöglichkeiten gibt.«
    Miss Climpson, die mit halb aufgelöster Frisur und fast bis zur Seifendose hochgeschobenem züchtig schwarzem Unterrock auf dem Boden saß, stimmte ihr ermattet zu.
    »Es ist furchtbar ermüdend, nicht wahr?« sagte Miss Booth. »Möchten Sie nicht lieber aufhören? Ich kann ja morgen allein weitersuchen. Ich kann Sie hier doch nicht so schuften lassen.«
    Miss Climpson überlegte sich das. Wenn das Testament in ihrer Abwesenheit gefunden und an Mr. Urquhart geschickt wurde, hatte Miss Murchison dann

Weitere Kostenlose Bücher