Starkes Gift
noch die Gelegenheit, es in die Finger zu bekommen, bevor es versteckt oder vernichtet wurde?
Versteckt, nicht vernichtet. Die bloße Tatsache, daß ihm das Testament von Miss Booth zugeschickt worden war, würde den Anwalt daran hindern, es verschwinden zu lassen, da es eine Zeugin für seine Existenz gab. Aber er würde es für eine erhebliche Zeitdauer mit Erfolg versteckt halten können, und Zeit war das Entscheidende in dieser Angelegenheit.
»Ach was, ich bin kein bißchen müde«, behauptete sie strahlend und setzte sich in die Hocke, um ihre Frisur wieder in Ordnung zu bringen, sogar noch ein Quentchen ordentlicher als gewöhnlich. Sie hatte ein braunes Notizbuch in der Hand, das aus einer Schublade einer japanischen Vitrine stammte, und blätterte mechanisch darin herum. Eine Zahlenreihe fiel ihr dabei auf: 12, 18, 4, 0, 9, 3, 15, und sie fragte sich kurz, was es damit auf sich haben könne.
»Jetzt haben wir hier alles durchsucht«, sagte Miss Booth.
»Ich glaube nicht, daß wir noch etwas ausgelassen haben – es sei denn, hier befindet sich irgendwo ein Geheimfach.«
»Meinen Sie, es könnte auch in einem Buch sein?«
»In einem Buch! Aber natürlich wäre das möglich! Wie dumm von uns, daß wir daran nicht gleich gedacht haben! In Kriminalromanen werden Testamente immer in Büchern versteckt.«
»Jedenfalls öfter als im Leben«, dachte Miss Climpson, aber sie stand auf, klopfte sich den Staub ab und sagte munter: »Stimmt. Gibt es in diesem Haus viele Bücher?«
»Tausende«, sagte Miss Booth. »Unten in der Bibliothek.«
»Ich hätte Mrs. Wrayburn eigentlich nicht für eine große Leserin gehalten.«
»Ich glaube auch nicht, daß sie eine war. Die Bücher hat sie mitsamt dem Haus gekauft, sagt Mr. Urquhart. Es sind fast lauter alte Bücher – so große Dinger, in Leder gebunden. Entsetzlich langweilig. Ich habe da noch nie etwas zu lesen gefunden. Aber es sind genau die richtigen Bücher, um ein Testament darin zu verstecken.«
Sie gingen hinaus in den Korridor.
»Sagen Sie mal«, meinte Miss Climpson, »werden die Dienstboten es nicht merkwürdig finden, wenn wir um diese Zeit noch im ganzen Haus herumlaufen?«
»Die schlafen alle im anderen Flügel. Außerdem wissen sie, daß ich manchmal Besuch habe. Mrs. Craig war oft noch so spät hier wie Sie jetzt, wenn wir eine interessante Séance hatten. Hier ist sogar ein Zimmer, in dem ich jemanden schlafen lassen kann, wenn ich will.«
Miss Climpson erhob keine weiteren Einwände, und sie gingen die Treppe hinunter und über den Flur zur Bibliothek. Sie war groß, und Bücher füllten sämtliche Wände und Nischen in gezackten Reihen – ein herzzerreißender Anblick.
»Natürlich«, sagte Miss Booth, »wenn die Botschaft nicht ausdrücklich auf etwas gelautet hätte, das mit B anfängt –«
»Ja?«
»Dann hätte ich eigentlich gedacht, daß sich die Papiere hier im Safe befinden würden.«
Miss Climpson stöhnte im stillen. Natürlich war das der wahrscheinlichste Aufbewahrungsort! Wenn doch nur ihr fehlgeleiteter Erfindungsreichtum – na ja! Man mußte das Beste daraus machen.
»Moment!« sagte sie. »Wenn sich der Safe in der Bibliothek befindet, kann sich das B doch darauf bezogen haben, oder? Sehen wir einfach mal nach.«
»Richtig! Aber wenn das Testament im Safe wäre, wüßte Mr. Urquhart ja davon.«
Miss Climpson bekam das Gefühl, daß sie der Phantasie einen allzu großen Spielraum gegeben hatte.
»Jedenfalls würde es nicht schaden, uns zu vergewissern«, meinte sie.
»Ich kenne aber die Kombination nicht«, sagte Miss Booth. »Mr. Urquhart kennt sie natürlich. Wir könnten hinschreiben und ihn fragen.«
Da hatte Miss Climpson plötzlich eine Eingebung.
»Ich glaube, ich kenne sie«, rief sie. »In diesem braunen Notizbuch, in dem ich vorhin geblättert habe, stand eine Reihe von sieben Zahlen, und ich hatte mir gleich gedacht, daß sie irgendeine Bedeutung haben müssen.«
»Braunes Buch!« rief Miss Booth. »Schon wieder lauter B! Wie konnten wir nur so dumm sein! Mrs. Wrayburn wollte uns mit dem B auch mitteilen, wo wir die Kombination finden!«
Miss Climpson pries im stillen die vielseitige Verwendbarkeit des Buchstabens B.
»Ich laufe noch mal hoch und hole es!« rief sie.
Als sie wieder herunterkam, stand Miss Booth vor einem Abschnitt in den Bücherregalen, der von der Wand fortgeschwenkt war. Dahinter war die grüne Tür eines eingebauten Safes zum Vorschein gekommen. Mit zitternden Fingern
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