Starters
kannte mich zu gut.
»Dann gehört sie euch beiden«, erklärte er.
Michael zuckte mit den Achseln, und das Haar fiel ihm wieder über Stirn und Augen. Lässig sah das aus und irgendwie ganz typisch für ihn. »Einverstanden, bevor du mich schlägst.«
Tyler lächelte und nahm meine Hand. »Danke, Callie.«
Er versuchte meine Finger ganz fest zusammenzudrücken, wie er es früher immer gemacht hatte.
Aber er schaffte es nicht.
Wir saßen um einen Schreibtisch in der Mitte des Saals, den wir zum Esstisch umfunktioniert hatten. Michaels Handleuchte stand in der Mitte, auf Kerzenmodus eingestellt. Wir schnitten die Riesenpralinen in kleine Stücke, die wir spaßeshalber Vorspeise, Hauptgericht und Dessert nannten. Die süße zähe Leckerei war ein Zwischending aus einem Brownie und Fudge und schmeckte einfach himmlisch. Obwohl wir sie langsam auf der Zunge zergehen ließen, war sie viel zu schnell alle.
Tyler wirkte nach dem Essen etwas munterer. Er sang vor sich hin, während Michael das Kinn auf die Hand stützte und mich über den Tisch hinweg anstarrte. Er brannte darauf, mich über die Body Bank und alles andere auszufragen. Ich sah, wie sich sein Blick auf meine frischen Schrammen heftete.
»Das süße Zeug macht Durst«, sagte ich.
»Genau.« Tyler nickte.
Michael stand auf. »Dann fülle ich mal besser die Wasserflaschen.« Er schnappte sich unsere Flaschen, die an Riemen neben der Tür hingen, zusammen mit dem Eimer für das Waschwasser. Dann verließ er den Raum.
Tyler ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Die Begeisterung über die Supertruffles forderte ihren Tribut. Ich strich ihm über das babyweiche Haar und den Nacken. Der Kapuzenpulli war ihm von der Schulter gerutscht und gab die Impfnarbe frei. Ich fuhr mit dem Finger darüber, dankbar für das kleine Mal. Ohne diese Impfung wären wir jetzt tot wie unsere Eltern. Tot wie alle Menschen zwischen vierzig und sechzig. Da wir Jungen, ebenso wie die Alten, besonders anfällig gegen die Genozid-Sporen waren, hatte man unsere beiden Altersgruppen zuerst geimpft.
Und jetzt gab es nur noch Starters und Enders. Was für eine makabere Ironie war das?
Nach ein paar Minuten kam Michael mit den gefüllten Wasserflaschen zurück. Ich ging ins Bad, wo er den Eimer mit dem Waschwasser abgestellt hatte. In der ersten Woche, die wir hier verbracht hatten, waren die Leitungen noch intakt gewesen. Mit einem Seufzer erinnerte ich mich an den Luxus von fließendem Wasser. Inzwischen mussten wir unser Wasser aus außen gelegenen Brunnen stehlen.
Das kalte Wasser erfrischte mich, obwohl wir schon November hatten und die Heizung längst nicht mehr funktionierte. Ich wusch mir das Blut von Gesicht und Armen.
Als ich in den Bürosaal zurückkehrte, hatte es sich Tyler in unserer Ecke bequem gemacht. Michael lag uns gegenüber, in seiner Burg, die das Spiegelbild der unseren war. Nun, da wir uns alle in einem Raum befanden, fühlte ich mich sicherer. Falls wir ungebetenen Besuch bekamen, konnte einer von uns den Eindringling von hinten angreifen. Michael hatte ein Metallrohr. Ich besaß einen Mini-Zip-Taser, der meinem Vater gehört hatte. Er war nicht so wirksam wie die Elektroschocker der Marshals, aber ich verließ mich voll und ganz auf ihn. Irgendwie traurig, dass mir eine Waffe Trost spenden musste.
Ich setzte mich auf meinen Schlafsack und zog die Schuhe aus. Dann schlüpfte ich aus dem Hoodie und tat, als wollte ich mich schlafen legen. Ich hatte im Geiste eine Liste der Dinge angelegt, die mir am meisten fehlten. An diesem Abend erweiterte ich sie um einen Schlafanzug. Einen Schlafanzug aus Flanell, warm aus dem Trockner. Ich hatte es satt, immer in Straßenklamotten zu schlafen, immer darauf vorbereitet, zu fliehen oder in einen Kampf verwickelt zu werden. Ich sehnte mich nach einem flauschigen Pyjama und einem tiefen Schlaf, in dem für ein paar Stunden die Welt vergessen war.
»Michael hat unser Zeug rübergeschafft.« Tyler ließ seine Handleuchte über unsere Bücher und sonstigen Schätze wandern, die auf den Schreibtischen ringsum gestapelt waren.
»Ich weiß. Das war ganz lieb von ihm.«
Der Lichtstrahl ruhte auf einem Stoffhund. »Es ist alles wie zuvor.«
Erst dachte ich, er meinte, wie früher bei uns zu Hause, aber dann wurde mir klar, dass er vom Vortag sprach. Michael hatte sich die Mühe gemacht, unsere Habseligkeiten genau so zu arrangieren wie in unserem vorigen Unterschlupf, weil er wusste, wie kostbar sie für uns waren.
Tyler
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