StatusAngst
gelangte, kam das Geld als Tugendbarometer natürlich nicht in Frage, bewies es doch nichts weiter, als dass man in die richtige Familie hineingeboren worden war. Aber in einer Leistungsgesellschaft, wo lukrative Jobs von den eigenen Fähigkeiten abhingen, konnte man Reichtum durchaus als Indikator für Charakterstärke betrachten. Die Reichen hatten nicht einfach nur mehr Geld, sie waren möglicherweise einfach die besseren Menschen.
Im 19.Jahrhundert revidierten viele christliche Denker, besonders in Amerika, ihre Ansichten bezüglich des Geldes. Amerikaner protestantischer Konfessionen verkündeten, Gott erwarte von seinen Kindern nicht nur Jenseitsgläubigkeit, sondern auch materiellen Erfolg; wer es in dieser Welt zu etwas bringe, könne auch in der nächsten auf einen guten Platz hoffen. Vertreten wurde diese Überzeugung auch von Thomas P. Hunt in einem Bestseller von 1836: »Das Buch vom Reichtum. Im welchem anhand der Bibel bewiesen wird, dass es jedermanns Pflicht sei, reich zu werden.« Reichtum galt nun als Belohnung für ein gottgefälliges Leben. John D. Rockefeller behauptete ungeniert, dass sein Geld von Gott komme, während William Lawrence, Episkopalisten-Bischof in Massachusetts, 1892 erklärte: »Auf lange Sicht betrachtet, kommt der Reichtum nur zu den Rechtschaffenen. Wie der Psalmist sehen auch wir gelegentlich das Böse gedeihen, aber nur gelegentlich. Gottes Segen gilt dem Reichtum.«
Das Leistungsprinzip eröffnete der großen Masse die Chance auf ein erfülltes Leben. Jahrhundertelang hatten starre Hierarchien begabte und intelligente Menschen in die Schranken gewiesen, nun konnten sie ihre Talente und Fähigkeiten unter annähernd gleichberechtigten Bedingungen ausspielen. Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe oder Alter waren keine unüberwindlichen Karrierehemmnisse mehr. Endlich war in die Verteilung der gesellschaftlichen Güter ein Element der Gerechtigkeit eingekehrt.
Aber das Ganze hatte, natürlich, auch seine Kehrseite: Wenn die Erfolgreichen ihren Erfolg verdienten, folgte daraus, dass die Verlierer selbst an ihrem Scheitern schuld waren. Wenn es in der Leistungsgesellschaft bei der Verteilung des Reichtums gerecht zuging, dann auch bei der Verteilung der Armut. Wer einen geringen Status hatte, war nicht nur zu bedauern, sondern er hatte nichts Besseres verdient.
Wer aber aus eigener Kraft reich geworden war, ohne Erbschaften oder andere Vorrechte, erfuhr eine Bestätigung seines persönlichen Wertgefühls, die dem Adligen, der Reichtum und Würden lediglich ererbt hatte, nie vergönnt gewesen war. Andererseits verband sich der materielle Misserfolg mit einem Gefühl der persönlichen Schande, das dem Bauern der Feudalzeit, der nie die Chance hatte, seinem Los zu entkommen, zum Glück erspart geblieben war.
Für diejenigen Mitglieder der modernen Leistungsgesellschaft, die durchaus über Begabungen und Fähigkeiten verfugten, aber trotzdem arm blieben, wurde es immer schwerer und schmerzhafter, eine befriedigende Erklärung für ihre Erfolglosigkeit zu finden.
Dritte Legende:
Die Armen sind sündig und verdorben und verdanken ihre Armut der eigenen Dummheit.
An Kandidaten, die stellvertretend für die Armen Erklärungen fanden, gab es in den letzten beiden Jahrhunderten keinen Mangel. Lautstark meldeten sich die zu Wort, die es für ausgemacht (und verifizierbar) hielten, dass Armut auf Dummheit und Verkommenheit zurückzuführen sei.
Mit dem Aufstieg der wirtschaftlichen Meritokratie wandelte sich in gewissen Kreisen auch der Blick auf die armen Schlucker. Hatten sie vorher als »unglücklich« gegolten, als Grund zu schlechtem Gewissen und Wohltätigkeit, wurden sie nun in den Augen der robusten Erfolgsritter zu »Versagern«, die nur Verachtung verdienten. Und die es geschafft hatten, dachten gar nicht daran, sich ihrer Prachtvillen zu schämen und Krokodilstränen über das Elend derer zu vergießen, die sie bei ihrem Aufstieg hinter sich gelassen hatten.
Es gibt keinen treffenderen Ausdruck für den Glauben an die gerechte Verteilung von Armut und Reichtum als den Sozialdarwinismus des 19.Jahrhunderts. Seine Anhänger gingen davon aus, dass alle Menschen sich erst einmal dem fairen Kampf um knappe Ressourcen stellen müssten — um Geld, Arbeit, Ansehen. Wenn jemand in diesem Kampf die Oberhand gewann, dann nicht aus Glück oder aufgrund ungerechtfertigter Vorteile, sondern weil er den anderen schlicht überlegen war. Die Reichen waren die Besseren — aber nicht
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