StatusAngst
aus moralischen Gründen, sondern, schlimmer, von Natur aus. Sie besaßen mehr Durchsetzungskraft und bessere Anlagen, sie waren erfolgreicher und schlauer, sie waren die Tiger im Dschungel der menschlichen Gesellschaft, und sie waren von der Biologie dazu ausersehen, über die Schwächeren zu triumphieren eine neue Patent-Religion, vor der sich das 19.Jahrhundert verbeugte. Die Biologie wollte die Armen arm und die Reichen reich sehen.
Außerdem beharrten die Sozialdarwinisten darauf, dass das Elend und die geringe Lebenserwartung der Armen für die Gesellschaft als Ganzes von Nutzen seien und daher nicht durch Regierungsmaßnahmen bekämpft werden sollten. Die Schwachen seien die Irrtümer der Natur und müssten daher zugrunde gehen, bevor sie sich fortpflanzen und somit den Volkskörper vergiften konnten. Auch im Tierreich gebe es Missbildungen, und am vernünftigsten sei es, die Lebensuntauglichen ohne Mitleid sterben zu lassen.
Der englische Sozialdarwinist Herbert Spencer argumentierte in seinem Buch Social Statics (1851), dass der Gedanke des Mitleids der Biologie zuwiderlaufe: »Es mag hart erscheinen, dass Witwen und Waisen dem Kampf ums Dasein auf Gedeih und Verderb ausgesetzt werden sollen. Doch wenn man dies nicht isoliert betrachtet, sondern in Verbindung mit den Interessen der gesamten Menschheit, erkennt man, dass diese Härten des Schicksals eine Wohltat sind - dieselbe Wohltat, die den Kindern kranker Eltern ein frühes Grab beschert ... Folgt die Gesellschaft der natürlichen Ordnung, sondert sie ständig ihre kranken, schwachsinnigen, trägen, wankelmütigen, unzuverlässigen Mitglieder aus. Wenn sie intakt genug sind, um zu überleben, werden sie leben, und dann ist es gut, dass sie leben. Wenn sie nicht intakt genug sind, um zu überleben, dann sterben sie, und es ist das Beste, dass sie sterben.«
Spencers Lehren fielen bei den amerikanischen Plutokraten, die aus eigener Kraft reich geworden waren und Wirtschaft und Presse beherrschten, auf fruchtbaren Boden. Der Sozialdarwinismus lieferte ihnen scheinbar unwiderlegbare wissenschaftliche Argumente im Kampf gegen eine Bedrohung, die schon spürbar wurde und die ihnen wirtschaftliche Sorgen bereitete: Gewerkschaften, Marxismus, Sozialismus. Auf seiner triumphalen Amerika-Reise von 1882 hielt Spencer Vorträge vor Unternehmern. Er schmeichelte ihnen damit, dass er sie mit Alpha-Tieren im menschlichen Dschungel verglich, und nahm ihnen alle Gefühle der Schuld und des Mitleids gegenüber schwächeren Vertretern der Art.
Selbst viele von denen, die sich nicht direkt zum Sozialdarwinismus bekannten, teilten eine seiner Grundannahmen — dass es unnötig und wahrscheinlich falsch sei, den Armen zu helfen. Wenn jeder die Möglichkeit hatte, aus eigener Kraft nach oben zu kommen, dann waren politische Maßnahmen zur Unterstützung der Unterschichten nur eine Belohnung für ihr Versagen.
In seinem Buch »Selbsthilfe« (1859) gab der schottische Arzt Samuel Smiles sozial benachteiligen jungen Menschen den Rat, sich hohe Ziele zu stecken, sich weiterzubilden und sparsam zu leben — und ereiferte sich über alle sozialen Einrichtungen, die sie alimentierten. »Alles, was für diese Menschen getan wird, mindert den Anreiz und den Zwang, die Dinge selbständig zu meistern. Der Wert von Gesetzen zur Förderung des menschlichen Wohls wird sehr überschätzt. Kein Gesetz, und mag es noch so streng sein, kann die Faulen fleißig, die Verschwenderischen sparsam und die Betrunkenen nüchtern machen.«
Der schottisch-amerikanische Wirtschaftsmagnat Andrew Carnegie bestritt trotz seiner philanthropischen Neigungen ebenfalls den Nutzen der Wohlfahrt: »Von tausend Dollar, die für so genannte wohltätige Zwecke ausgegeben werden, könnte man neunhundertfünfzig ebenso gut ins Meer werfen«, schrieb er 1920 in seinen Memoiren. »Jeder betrunkene Landstreicher oder Faulenzer, der von Almosen lebt, ist eine moralische Ansteckungsgefahr für seine Nachbarschaft. Es geht nicht an, dem schwer arbeitenden, tüchtigen Mann beizubringen, dass es eine bequemere Art des Unterhalts gibt. Je weniger Mitleid, umso besser. Weder dem Einzelnen noch der Menschheit im Ganzen kann durch Almosen geholfen werden. Diejenigen, die Unterstützung verdienen, brauchen sie in den seltensten Fällen. Das ist bei wirklich wertvollen Menschen so.«
In dem härteren Meinungsklima, das sich unter den Nutznießern der Meritokratie ausbreitete, kam bald die Behauptung auf, die soziale
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