StatusAngst
Wahrheit nicht reicher als die Schlösser ihrer Geldtruhen, nämlich wesentlich und ewiglich zu Reichtum außerstande.«
Ruskin artikulierte die schlichten, unschuldigen Wahrheiten der biblischen Propheten, und wer ihn nicht auslachte (die Saturday Review bezeichnete ihn als »keifende Gouvernante« und seine Thesen als »Überspanntheit«, »Unsinn« und »unerträgliches Geschwätz«), der hörte zu. 1906 zogen die ersten siebenundzwanzig Abgeordneten der Labour Party ins britische Unterhaus ein und wurden bei der Gelegenheit gefragt, welches Buch den größten Einfluss auf ihre Entschlossenheit ausgeübt habe, soziale Gerechtigkeit auf politischem Wege durchzusetzen. Siebzehn nannten Unto This Last von John Ruskin. Dreizehn Jahre später, in einer Gedenkrede anlässlich des hundertsten Geburtstags von Ruskin, verglich ihn George Bernard Shaw mit Marx und Lenin: Gemessen an Ruskins Büchern seien deren Invektiven und Ausfälle nicht viel mehr als die Platitüden eines Dorfpfarrers (und das, obwohl sich Ruskin, der aufreizende Etikettierungen liebte, als »rabiaten Tory alter Schule« bezeichnete, »ich meine selbstredend der Schule von Walter Scott und Homer«). »Ich bin in meinem Leben einigen ausgesprochen revolutionären Gestalten begegnet«, fuhr Shaw fort, »und nicht wenige gaben mir auf die Frage ›Wer hat Sie auf diese revolutionäre Bahn gebracht? War es Marx?‹ die Antwort: ›Nein, Ruskin.‹ Die Ruskinianer darf man getrost als gründlichste Gegner unserer gesellschaftlichen Verhältnisse bezeichnen. Ruskins politische Botschaft an alle zivilisierten Zeitgenossen, die Klasse, der er selbst angehörte, lautet zuvörderst und zuletzt: ›Ihr seid eine Bande von Dieben.««
Ruskin stand mit seiner Meinung nicht allein. Neben ihm gab es andere, die nicht müde wurden, ihre mal empörten, mal melancholischen Stimmen gegen den Vorrang zu erheben, der dem Geld als Maß der Wohlanständigkeit eingeräumt wurde, als gesellschaftlicher Visitenkarte schlechthin, statt darin nur eine — und dazu nebensächliche - Komponente eines erfüllten Lebens zu sehen. »Die Menschen sind immer geneigt, im Reichtum einen kostbaren Selbstzweck zu sehen, und das taten sie noch nie so sehr wie im England der Gegenwart«, schrieb Matthew Arnold in Kultur und Anarchie (1869). »Niemals haben Menschen zäher an etwas festgehalten als neun von zehn Engländern der Gegenwart am Glauben, dass sich unsere Größe und unser Wohlergehen daran erweist, dass wir so unermesslich reich sind.« Wie schon Ruskin sieben Jahre zuvor, beschwor Arnold die Bürger der reichsten und mächtigsten Industrienation, den Reichtum als nur eine von vielen Quellen des Glücks zu betrachten - Glück hierbei (zum neuerlichen Ergötzen des Rezensenten des Daily Telegraph) verstanden als »innere Seelenregung, in Wesenheit mehr Süße, mehr Licht, mehr Leben und mehr Empathie«.
Thomas Carlyle war der gleichen Meinung, und zwar noch vehementer. In Midas (1843) fragte er: »Diese erfolgreiche Industrie Englands mit ihrem überbordenden Reichtum ... wen hat er bereichert? ... Wir haben unser Leben aufs üppigste verschönt, aber vergessen, mitten darin zu leben. Viele essen bessere Speisen, trinken teurere Spirituosen, aber welchen Segen finden wir in ihrem Herzen? Sind sie besser, schöner, stärker, tapferer geworden? Oder sind sie gar das, was sie ›glücklicher‹ nennen? Blicken sie mit Zufriedenheit auf mehr Dinge und menschliche Gesichter auf Gottes Erde, erwidern mehr Dinge und menschliche Gesichter mit Zufriedenheit den Blick? Mitnichten ... Wir haben gründlich vergessen, dass die Barzahlung nicht die einzige Beziehung zwischen menschlichen Wesen darstellt.«
Carlyle war nicht blind für die Vorzüge des neuen Unternehmergeists. Er würdigte sogar die Fortschritte der Buchhaltung (»Die doppelte Buchführung ist bewundernswert; viele Dinge werden in exakter Manier verzeichnet«). Aber wie Arnold und Ruskin und viele andere vor und nach ihm geißelte er eine Lebensweise, in der die »Vergötzung des Mammon« an die Stelle des Strebens nach »Glückseligkeit« und »Zufriedenheit« auf »Gottes Erde« getreten zu sein schien.
Politischer Wandel
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Wie sehr uns eine soziale Hierarchie auch vergrätzt oder verwirrt, tendieren wir zu der resignativen Annahme, dass sie zu gut verankert und zementiert sei, um in Frage gestellt zu werden, dass Gemeinschaften und ihre Grundsätze praktisch unwandelbar, ja naturgegeben
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