Staub zu Staub
stieß sich von der Wand ab.
Tilse straffte die Schultern. Das Gefühl der Überlegenheit kehrte zurück. „Ich verstehe, wie Sie sich fühlen, nach all dem. Aber Respekt gehört immer noch zu den Werten unserer Organisation.“
„Geschissen habe ich auf eure Werte und eure gesamte Organisation.“
„Sie vergessen wohl, mit wem Sie reden.“
Plötzlich zerrte Walters ihm die Schlüssel aus der Hand und stieß ihn zur Kammer. Tilse stolperte, fiel über die Schwelle und fluchte. Walters stand schwankend im Türrahmen und drehte den Schlüsselring am Finger.
„Gehörte nicht mal zu den Werten deiner Organisation, auf das Fluchen zu verzichten?“ Sein Mundwinkel zuckte. „Was meinst du, ob sie dich schon heute vermissen werden?“ Er legte seine Hand an die Tür, doch ein Hustenanfall ließ ihn zusammenbrechen. Die Schlüssel entglitten seinen Fingern. Er röchelte, rutschte am Rahmen auf die Knie und hustete, als würde er sich die halbe Lunge heraus-würgen.
Tilse hob den Schlüsselbund auf und sah auf Walters herab, der sich vor seinen Füßen krümmte. Ein todkranker Rebell. Verbittert und ohne Hoffnung. Besser hätte es nicht sein können. Er wartete und schnippte mit dem Daumen einen Schlüssel nach dem anderen um, bis Walters’ Anfall verebbte. Tilse ging in die Hocke. Das Ziehen in seinem Knöchel ignorierte er.
„Walters, ich weiß, was mit Ihnen los ist. Ich kann Ihnen helfen.“
„Wasser“, röchelte er.
Tilse legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ja, ich weiß. Kommen Sie mit.“
Er dirigierte den jungen Mann zur Bibliothek des Abtes, in der er zuletzt über Sinn und Unsinn der Kabbala diskutiert hatte. Durch die Gemäuer des Klosters schallten die sakralen Gesänge der Schädel. ‚Ave Maria’. Zufrieden stimmte er mit seinem Summen ein.
In der Bibliothek schaltete er das Licht an. Walters stöhnte und legte den Arm über die Augen. Tilse beeilte sich, das Licht wieder auszumachen. Walters schleppte sich zum Tisch, auf dem ein Glas und Mineralwasser standen und einige Mappen bereit lagen. Noch bevor er die Flasche fassen konnte, nahm Tilse sie in die Hand und schenkte ihm ein.
„Trinken Sie.“ Er schraubte die Flasche zu und ging mit ihr um den Tisch herum.
Der Bursche soff als käme er direkt von einem Fußmarsch durch die Wüste. Das Wasser quoll aus seinem Mund und lief ihm über Kinn und Hals, er verschluckte sich und prustete. Tilse verzog das Gesicht und setzte sich, möglichst weit von der Pfütze entfernt.
„Mehr.“ Walters knallte das Glas auf den Tisch. „Bitte.“
„Davon würde ich abraten.“ Er stellte die Flasche am Boden ab und zog den Stapel mit den Mappen zu sich. Die oberste enthielt Walters’ Untersuchungen, die der Arzt vorgenommen hatte. „Bei Ihrer Glomerulonephritis müssen Sie mit 1,5 Litern am Tag auskommen. Eiweiß- und phosphatarm essen und Kochsalz meiden.“
„Meiner – was?“
„Setzen Sie sich doch.“ Er deutete auf einen der Stühle. Mit sanfter Stimme fuhr er fort. „Sie haben ein Goodpasture-Syndrom. Es ist eine Autoimmunkrankheit, akutes Nierenversagen ist eins der Symptome.“
Walters ließ sich auf den Stuhl sinken. „Autoimmun-was-für-ein-Syndrom?“ Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und kämmte sich durch sein fettiges Haar. „Ist das Aids?“
„Nein.“ Tilse kratzte sich mit der Mappe an der Nasenspitze. „Kein Aids.“
„Okay. Ich dachte schon, ich muss mir Sorgen machen.“
„Müssen Sie. Es ist eine sehr seltene Krankheit mit nur einem Fall pro einer Million Menschen im Jahr und zurzeit unheilbar. Sie verursacht Blutungen in der Lunge und führt zu einem schnellen Nierenversagen.“ Tilse schlug die Beine übereinander und senkte die Mappe auf seinen Schoß. „Ja, an Ihrer Stelle würde ich mir Sorgen machen.“
„Welcher Tag ist heute?“
„Montag.“
„Am Donnerstag war ich noch kerngesund. Wo habe ich mich mit diesem Zeug anstecken können?“
„Eine Autoimmunkrankheit ist nicht ansteckend. Wissen Sie, Ihr Immunsystem ist dafür zuständig, den Organismus vor fremden Zellen – wie Viren zum Beispiel – zu beschützen. Bei einer Autoimmunkrankheit denkt es aber, die körpereigenen Zellen sind die Fremden. Es greift sie an und zerstört sie. Mit anderen Worten: Während wir hier reden, frisst Ihr Organismus sich selbst auf.“
Walters drückte mit den Daumen auf seine Schläfen. „Aber warum tut er das auf einmal?“
„Tja. Es existieren ein paar Theorien. Eine davon vermutet, dass fremde
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