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Staub

Staub

Titel: Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Schreibtischunterlage. »Ihre Meinung ist hier nur in einem einzigen Fall gefragt, und zwar in dem von Gilly Paulsson. Also würde ich Ihnen dringend empfehlen, sich nicht an den Veränderungen aufzureiben, die Sie hier antreffen werden. Sie waren lange fort. Fünf Jahre, richtig? Während des Großteils dieser Zeit gab es hier nur einen kommissarischen Chefpathologen. Genau genommen fungierte Dr. Fielding als Leiter, als ich vor ein paar Monaten hier anfing. Also ist natürlich vieles anders. Wir beide haben einen völlig unterschiedlichen Führungsstil, was einer der Gründe ist, warum der Staat mich eingestellt hat.«
    »Meiner Erfahrung nach gibt es Probleme, wenn der Chef sich nie im Leichenschauhaus blicken lässt«, sagt Scarpetta, und es ist ihr völlig gleichgültig, ob er es hören will. »Zumindest vermittelt es den Ärzten den Eindruck, dass sich niemand für ihre Arbeit interessiert. Auch Ärzte können nachlässig und faul werden, und viele sind irgendwann ausgebrannt, wenn sie tagein, tagaus solchem Grauen ausgesetzt sind.«
    Seine Augen sind so glanzlos und starr wie angelaufenes Kupfer, und er hat die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Die Fensterscheiben hinter seinem Kopf mit dem schütteren Haar sind so sauber, dass sie nicht vorhanden zu sein scheinen. Scarpetta stellt fest, dass er das kugelsichere Glas ausgetauscht hat. In der Ferne ragt das Coliseum auf wie ein brauner Pilz, und ein trüber Nieselregen hat eingesetzt.
    »Ich kann vor dem, was ich sehe, nicht die Augen verschließen, nicht wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe«, fährt sie fort. »Es interessiert mich nicht, ob es hier nur einzig und allein um einen Fall geht, wie Sie es ausgedrückt haben. Es muss Ihnen doch klar sein, dass alles gegen uns verwendet wird, sowohl vor Gericht als auch anderswo. Und im Moment ist es das Anderswo, das mir Sorgen macht.«
    »Ich fürchte, Sie sprechen in Rätseln«, erwidert Dr. Marcus und starrt sie an, während sich ein verärgerter Ausdruck auf seinem mageren Gesicht abzeichnet. »Anderswo? Was meinen Sie mit anderswo?«
    »Einen Skandal. Eine Anzeige. Oder schlimmstenfalls einen Strafprozess, der wegen Formfehlern eingestellt wird. Wegen Beweisen, die aufgrund von nicht vorschriftsmäßigem Vorgehen oder fachlichem Versagen für nicht zulässig erklärt werden, sodass es keine Gerichtsverhandlung und kein Urteil gibt.«
    »Ich habe so etwas gleich befürchtet«, sagt er. »Ich habe den Gesundheitsminister gewarnt, es wäre eine schlechte Idee.«
    »Daraus kann ich Ihnen keinen Vorwurf machen. Niemand möchte, dass der ehemalige Chef an seinem Arbeitsplatz erscheint, um Ordnung …«
    »Ich habe dem Gesundheitsminister zu bedenken gegeben, dass eine verbitterte ehemalige Mitarbeiterin, die hier hereinschneit und alles besser weiß, das Letzte ist, was wir derzeit gebrauchen können«, fährt er fort, greift nach einem Stift und legt ihn wieder weg. Seine Hände wirken nervös und zornig.
    »Ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie so …«
    »… Insbesondere, wenn diese Person fanatisch ist«, ergänzt er mit kalter Stimme. »Nichts ist schlimmer als ein Fanatiker. Abgesehen von einem Fanatiker, der sich ungerecht behandelt fühlt.«
    »Das verbitte …«
    »Aber jetzt sitzen wir eben hier. Machen wir das Beste daraus.«
    »Ich würde mich freuen, wenn Sie mir nicht ständig ins Wort fielen«, sagt Scarpetta. »Und falls Sie darauf bestehen, mich als Fanatikerin zu bezeichnen, werde ich es als Kompliment deuten. Jetzt möchte ich mit Ihnen über Gebisse sprechen.«
    Er starrt sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
    »Ich bin gerade Zeugin einer Verwechslung im Leichenschauhaus geworden«, erklärt sie. »Das falsche Gebiss beim falschen Verstorbenen. Nachlässigkeit. Zu viel Handlungsfreiraum für junge Soldaten aus Fort Lee, die keinerlei medizinische Ausbildung haben und eigentlich hier sind, um etwas von Ihnen zu lernen. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn eine Familie ihren geliebten Angehörigen im Beerdigungsinstitut aufbahren lässt, der Sarg ist offen, und das Gebiss fehlt oder passt nicht. Das wäre der Anfang eines Zerfallsprozesses, der nur schwer aufzuhalten ist. Die Presse liebt solche Geschichten, Dr. Marcus. Und sollten Sie so ein Gebiss in einem Mordfall verwechseln, machen Sie dem Verteidiger damit ein hübsches Geschenk, auch wenn die Zähne mit dem Verbrechen an sich gar nichts zu tun haben.«
    »Wessen Gebiss?«, fragt er stirnrunzelnd.

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