Staunen über den Erlöser
doch, dass er zu weit gehen würde!« »Den Galiläer gekriegt? Machst du ’nen Witz?« »Es heißt, einer seiner eigenen Leute hat ihn verraten.«
Bald wird Nikodemus heimlich sein Haus verlassen.
Gräber werden sich öffnen.
Ein Erdbeben wird die Stadt erschüttern.
Der Vorhang im Tempel wird zerreißen.
Schock, Verwirrung, Konfusion.
Einige weinen. Einige grinsen. Einige gehen zu dem Hinrichtungshügel, um dem Schauspiel beizuwohnen. Ein paar ärgern sich, dass die Heiligkeit des Passahs von einem Haufen Weltverbesserer verletzt wird. Jemand denkt laut darüber nach, ob dies derselbe Mann ist, der noch vor ein paar Tagen auf einem Teppich aus Palmenzweigen feierte. »Was in einer Woche alles passieren kann«, sagt er.
Oder an einem einzigen Tag.
Wir brauchen bloß Maria zu fragen. Wenn dieser Mutter gestern jemand gesagt hätte, dass sie heute den zerschundenen Leib ihres Sohnes am Kreuz hängen sehen würde, sie hätte es nicht geglaubt. Oder Nikodemus. Wenn ihm jemand am Donnerstag gesagt hätte, dass er binnen 24 Stunden den Leichnam seines Helden einbalsamieren würde, er hätte es sich nicht vorstellen können. Oder Pilatus. Wer hätte ihm plausibel machen können, dass er kurz davorstand, den Sohn Gottes zum Tode zu verurteilen?
Es kann viel geschehen in 24 Stunden.
Fragen Sie Petrus. Wenn jemand gestern diesem stolzen, entschiedenen Jünger gesagt hätte, dass er am nächsten Morgen nur noch ein Häufchen Elend und schlechtes Gewissen wäre, er hätte laut protestiert. Oder fragen wir die anderen zehn Apostel. Oder Judas … o, jämmerlicher Judas! Gestern noch wild entschlossen, heute tot durch seine eigene Hand. Sein baumelnder Leichnam verdunkelt die Morgensonne.
Nichts ist mehr wie vorher. Jeder ist betroffen.
Die Hinrichtung des Nazareners, sie ist so ungeheuerlich, dass man sie nicht ignorieren kann. Sehen Sie die Frauen, die dort heftig gestikulierend an der Straßenecke stehen? Wetten, dass sie über den Nazarener diskutieren? Oder die beiden Frauen dort auf dem Markt? Sie tauschen ihre Meinungen über den Messias aus (wenn er es denn ist). Und die zahllosen Pilger, die zum Passahfest nach Jerusalem geströmt sind? Sie werden die fantastische Geschichte von »dem Lehrer, der von den Toten auferstand« mit nach Hause nehmen. Jeder hat eine Meinung. Jeder ergreift Partei. Man kann nicht neutral bleiben bei so einer Sache. Gleichgültigkeit? Nicht hier. Entweder - oder. Wir müssen uns entscheiden.
Und die Menschen damals haben sich entschieden.
Für jeden raffinierten Kaiphas gab es einen mutigen Nikodemus. Auf jeden zynischen Herodes kam ein fragender Pilatus. Für jeden gotteslästerlichen Schächer am Kreuz gab es einen, der die Wahrheit suchte. Auf jeden Verräter Judas kam ein treuer Johannes.
Es war etwas an der Kreuzigung, das jeden der Zeugen entweder anzog oder abstieß. Das Kreuz war beides: Magnet und Stolperstein.
Heute, fast zweitausend Jahre später, ist es das immer noch. Das Kreuz ist die große Wasserscheide, die Weggabelung, der Punkt der Entscheidung. Und entscheiden müssen wir uns. Links oder rechts, ja oder nein. Wir können alles Mögliche mit dem Kreuz machen. Wir können seine Geschichte studieren. Wir können seine Theologie studieren. Wir können über seine Prophezeiungen nachdenken. Das Eine, das wir nicht machen können, ist, es zur Kenntnis zu nehmen und neutral zu bleiben. Gegenüber dem Kreuz kann man nicht neutral bleiben, das lässt sein absurder Glanz nicht zu. Neutral bleiben - das ist der eine Luxus, den Gott uns in seiner ungeheuren Gnade nicht erlaubt.
Wie haben Sie sich entschieden? Auf welcher Seite stehen Sie?
Kapitel 12
Gesichter in der Menge
Es waren zwei Gruppen von Menschen, die vom Kreuz berührt wurden: die, die bewusst und absichtlich mit ihm in Berührung kamen, und die, die es eher zufällig traf. Über die Letzteren gibt es ein paar faszinierende Geschichten, die heute noch erzählt werden.
I
Nehmen wir zum Beispiel Malchus. Als Diener des Hohen Priesters machte er im Garten Gethsemane nur seine Arbeit. Aber dieser Routineeinsatz wäre sein letzter gewesen, wenn er sich nicht blitzschnell geduckt hätte. Die Fackeln gaben gerade genügend Licht, dass er das Aufblitzen des Schwertes sehen konnte. Malchus zuckt instinktiv zurück – genug, um seinen Hals zu retten, aber nicht sein Ohr. Petrus bekommt eine Rüge und Malchus sein Ohr zurück. Ende der Episode.
Aber nicht für Malchus. Wäre der Blutfleck auf seinem Gewand nicht
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