Staunen über den Erlöser
zu sein. Aber ihre temperamentvolle Neugierde ließ sie alle Männer auf Abstand halten.
Oft sprach sie davon, in die große Stadt zu gehen. Den Staub ihres Viertels gegen prächtige Alleen und Großstadtluft zu tauschen, war ihr großer Traum. Doch der bloße Gedanke daran machte ihrer Mutter Angst. »In der Stadt kennt dich keiner«, warnte sie sie. »Es gibt wenig Arbeit und das Leben ist grausam. Womit willst du dein Brot verdienen, wenn du in die Stadt gehst?«
Maria wusste genau, was Christina tun würde (oder tun müsste), um sich ihr Brot zu verdienen, und darum brach ihr das Herz, als sie eines Morgens aufwachte und sah, dass das Bett ihrer Tochter leer war. Sie wusste sofort, wohin Christina gegangen war. Und was sie tun musste, um sie zu finden. Sie warf hastig ein paar Kleider in eine Tasche, steckte all ihr Geld ein und rannte aus dem Haus.
Auf dem Weg zur Bushaltestellte ging sie in eine Drogerie, um sich fotografieren zu lassen. Sie setzte sich in die Passbildkabine, zog den Vorhang zu und machte so viele Fotos von sich, wie sie sich mit ihrem Geld leisten konnte. Dann, die Handtasche voll von kleinen Schwarzweiß-Passfotos, stieg sie in den nächsten Bus nach Rio de Janeiro.
Maria wusste, dass Christina keine Chance hatte, in Rio Arbeit zu bekommen. Aber sie wusste auch, dass ihre Tochter zu stolz war, um aufzugeben. Und dass dann, wenn der Stolz auf den Hunger trifft, der Mensch Dinge tut, die früher undenkbar für ihn waren. Mit diesem Wissen im Hinterkopf begann Maria ihre Suche. Sie ging in Bars, Hotels, Nachtclubs und andere Häuser, die in der Prostitutionsszene bekannt waren, und überall hinterließ sie ein Foto von sich – an einem Badezimmerspiegel, am Schwarzen Brett eines Hotels, an einem öffentlichen Telefon. Und auf die Rückseite jedes Fotos schrieb sie eine Nachricht.
Es dauerte nicht lange, bis Maria kein Geld und keine Bilder mehr hatte und zurück nach Hause fahren musste. Die erschöpfte Mutter weinte, als sie mit dem Bus die lange Reise zurück in ihr kleines Dorf antrat.
Ein paar Wochen später stieg Christina die Treppe eines Hotels hinab. Ihr junges Gesicht war müde. Ihre braunen Augen tanzten nicht mehr, sondern sprachen von Schmerz und Angst. Ihr Lachen war gebrochen. Ihr Traum war zum Albtraum geworden. Wohl tausendmal schon hatte sie sich danach gesehnt, die zahllosen Betten gegen die Pritsche zu Hause eintauschen zu können. Aber ihr kleines Heimatdorf war, in mehr als einer Hinsicht, zu weit weg.
Als sie den Fuß der Treppe erreichte, sah sie plötzlich ein bekanntes Gesicht. Sie schaute wieder hin. Da, an dem Spiegel im Foyer – ein kleines Foto, das ihre Mutter zeigte. Mit brennenden Augen und einem dicken Kloß im Hals durchquerte sie das Foyer und löste das Foto von dem Spiegel. Auf der Rückseite stand geschrieben: »Egal, was du gemacht hast, egal, was aus dir geworden ist – bitte komm nach Hause.«
Und genau das tat sie.
»Der Sohn spiegelt die Herrlichkeit Gottes wider, und alles an ihm ist ein Ausdruck des Wesens Gottes« (Hebräer 1,3).
»Kommt alle her zu mir, die ihr müde seid und schwere Lasten tragt, ich will euch Ruhe schenken« (Matthäus 11,28).
Kapitel 32
Unberechenbar?
Ich habe den Verdacht, dass das Beständigste am Leben seine Unbeständigkeit und Widersprüchlichkeit ist.
Das Leben weigert sich beharrlich, sich in Schubladen einordnen zu lassen. Es ist ein Mischmasch aus Triumphen und Tragödien, Schmutz und Edelsteinen, Hoffnung und Verzweiflung, in welchem Schlechtes und Gutes, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit Schulter an Schulter wohnen und das Leben immer nur ein Uhrenticken weit vom Tod entfernt ist. Das Böse und das Gute scheinen nur durch einen dünnen Vorhang voneinander getrennt zu sein, und wenn der Augenblick passt und der Pfeil der Versuchung auf die richtige Schwachstelle zielt, gibt es keinen Menschen in der Welt, der nicht seinen Vorhang beiseitezieht und seine schlimmsten Fantasieabgründe auslebt.
Die Unberechenbarkeit des Lebens.
Ein und derselbe Augenblick kann einen herrlichen Sieg und eine vernichtende Niederlage bringen. Derselbe Tag kann Vereinigung und Trennung bringen. Dieselbe Geburt kann Schmerz und Frieden bringen. Wahrheit und Halbwahrheit sitzen oft auf demselben Sattel. (Und jawohl, Jakobus, Gutes und Böses können aus dem gleichen Mund kommen.)
»Wenn das Leben nur einfacher und geradliniger wäre!«, seufzen wir. Aber selbst für die Besten unter uns ist es eine Achterbahnfahrt mit tausend
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