Staustufe (German Edition)
begrüßen. «Wir haben es an verschiedenen Wohnungen klingeln hören», berichtete er lächelnd. «Da haben wir uns gedacht, es sind wohl die Ableser im Haus oder die Mormonen. Mit der Polizei haben wir nicht gerechnet. Setzen Sie sich doch.»
Anders als seine Frau sprach der bärtige Jüngling perfektes, akzentfreies Deutsch.
Kaum dass Winter saß, kredenzte ihm die Frau Gebäck auf einem Teller und Tee aus dem Samowar. Winter schlürfte, während er sich die Personalien notierte, einen Schluck Tee und wagte es auch, von dem orientalischen Gebäck zu versuchen. Es war sehr süß und schmeckte nach Nuss. Ein aufgeweckt wirkender kleiner Junge von drei oder vier kam unterdessen ins Zimmer und setzte sich neugierig dazu.
Der islamistisch aussehende junge Mann behauptete, er sei von Beruf Imam.
«In einer bestimmten Moschee?», fragte Winter.
«In der Bilal-Moschee. Eine marokkanische Gemeinde.»
Winter notierte das. Er musste sich eingestehen, dass er den jungen Imam ziemlich sympathisch fand. Zumindest schien er offen und verbindlich. Vielleicht lag es auch bloß an der weißen Kleidung, die Reinheit und Unschuld suggerierte. (Wie nannte man diese langen Hemden noch?) Jedenfalls war die Vorstellung wenig plausibel, der höfliche, kultiviert wirkende Imam habe einem wehrlosen Mädchen mit einem Stein das Gesicht zertrümmert.
Andererseits: Es gab Steinigung als Strafe im Islam. Und war die außerordentliche Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der El-Hallawis nicht auch verdächtig?
Auf Winters Bitte hatte die Frau nach dem Servieren ebenfalls Platz genommen. Winter stellte jetzt seine Fragen in Sachen Mainmädchen an die ganze Familie. Der junge Imam verständigte sich mit seiner Frau auf Arabisch und übersetzte, wenn es Probleme gab. Sie sei erst vor wenigen Jahren aus Marokko gekommen, entschuldigte Frau El-Hallawi ihr mäßiges Deutsch. Arrangierte Ehe wahrscheinlich, notierte Winter mental.
Mann und Frau beantworteten bereitwillig Fragen zu ihrem Aufenthalt und Aktivitäten am Freitag sowie zu anderen Leuten im Haus. Aber von einem sechzehn- bis achtzehnjährigen mittelblonden Mädchen wussten sie nichts. Ebenso wenig ihr aufgeweckter Sohn. Und nein, ihnen sei in letzter Zeit auch sonst nichts aufgefallen im Haus oder in der Gegend.
Winter allerdings fiel etwas auf. Und zwar dass es an dieser Stelle eine längere arabische Diskussion zwischen dem Imam und seiner Frau gab. Er bohrte nach: Ob sie denn ganz bestimmt keine ungewöhnlichen Beobachtungen gemacht hätten?
Frau El-Hallawi sah bedrückt auf ihre Hände. Ihr Mann wirkte nervös. Sie diskutierten wieder untereinander.
«Jetzt müssen Sie es mir schon sagen», erklärte Winter.
El-Hallawi seufzte. «Es hat ganz bestimmt nichts mit dem Fall zu tun. Reine Privatsache unserer Nachbarn.»
«Leider muss die Polizei bei Ermittlungen in einem Tötungsdelikt viele Privatsachen erfahren. Aber ich verspreche Ihnen, was mit dem Fall nichts zu tun hat, das bleibt auch privat.»
«Es hat wirklich definitiv nichts mit dem Fall zu tun. Und meine Frau möchte nicht, dass die Nachbarn erfahren, dass wir bei der Polizei über sie getratscht haben. Es sind nette Leute.»
Winter fragte sich, ob mit «netten Leuten» die Klinger/Rölschs von unten gemeint sein konnten. Nein, wahrscheinlich ging es um andere muslimische Nachbarn hier, die er noch nicht kennengelernt hatte.
Sofort kam ihm wieder Saras schrecklicher Selim in den Sinn. Möglicherweise war der Mord das Ergebnis einer schiefgelaufenen deutsch-türkischen Liebesgeschichte? Er verdrängte die Sorge um seine Tochter.
«Ich kann Ihnen, wenn Sie wünschen, Vertraulichkeit zusichern», behauptete er, obwohl das so nicht stimmte. Nur falls die Information definitiv nicht fallrelevant war, konnte er sie aus den Akten halten.
«Darum würde ich bitten», sagte El-Hallawi.
«Okay. Genehmigt. Dann schießen Sie los.»
El-Hallawi tauschte einen Blick mit seiner reglos dasitzenden Gattin.
«Meine Frau meint», begann er, «die beiden über uns hätten sich letzte Woche ein paarmal gestritten. Ich kann dazu nichts sagen, ich war nicht da. Es gab nach den Feiertagen sehr viel zu tun in der Moschee.»
«Was hat sie denn genau gehört? Laute Stimmen? Schläge, Kampfgeräusche?»
El-Hallawi sah zu seiner Frau, die einen arabischen Schwall von sich gab.
«Es war nicht mal besonders laut», übersetzte er am Ende ihren Bericht. «Von Schlägen hat sie gar nichts mitbekommen. Nur eben sehr scharfe Stimmen, die
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