Staustufe (German Edition)
bemitleidete.
Während Aksoy sich an Gerds Rechner machte, brach Winter widerwillig zu seiner Lockvogel-Tätigkeit im Strichermilieu auf. Normalerweise waren für solche Aufgaben Leute vom Kommissariat 13 zuständig. Winter hatte keine Ahnung, warum Fock heute ausgerechnet ihn für den Job auserkoren hatte. Im richtigen Alter wahrscheinlich, fiel ihm ein. Selten hatte er sich in seiner Haut so unwohl gefühlt wie heute. Litt er am Burnout-Syndrom? Es konnte doch nicht sein, dass er Depressionen bekam, bloß weil Gerd weg war. Dann fiel ihm Sara ein. Vielleicht lag es an ihr.
Aber er wusste, dass das nicht stimmte.
In ihrem rotgeziegelten Reihenhaus unterhalb der Staustufe war Frau Sabine Stolze ausnahmsweise ganz allein. Ihr Sohn war in der Schule. Ihr Mann hatte sich im Garten an einem rostigen Zaunnagel die Hand aufgerissen und war eben zu Fuß zum Arzt aufgebrochen. Er brauchte einen Verband und eine Tetanusspritze. Die letzte Auffrischung war schon lange her.
Sabine Stolze sah auf die Uhr. Halb zehn. Weniger als eine halbe Stunde konnte ihr Mann kaum fortbleiben. So lange hatte sie freie Bahn.
Sabine rannte hoch ins Bad. Aus der dort liegenden, blutbefleckten Hose ihres Mannes holte sie den Schlüsselbund, den er, konfus über seine Verletzung, vergessen hatte herauszunehmen. Den Schlüssel in der Hand, trippelte sie auf ihren hochhackigen Pantoffeln hinunter ins Erdgeschoss. Das hier gelegene Büro war der größte Raum des Hauses. Er war als Wohnzimmer gedacht und auch eines gewesen, als sie hier einzogen. Sabines Herzschlag beschleunigte sich, während sie verbotenerweise aufschloss. Ihr wurde fast übel vor Angst. Am liebsten hätte sie die Aktion abgebrochen. Aber dann schämte sie sich vor sich selbst. Konnte sie denn nicht ein einziges Mal mutig sein?
Da, draußen, ein Auto. Sabine hielt inne. Ihr Mann? Um Himmels willen!
Aber er war es gar nicht. Konnte es nicht sein, denn er war zu Fuß los. Es war nur die Dudek von nebenan. Und Sabine hatte wieder eine Minute kostbare Zeit verloren. Mit raschen Griffen schloss sie auf und trat ein. Diese Helligkeit hier! Die schönen großen Fenster! Niemand aus der Familie hatte etwas davon außer ihrem Mann. Sonst hatte die Wohnung überall kleine, weit oben angesetzte Fenster, die zudem noch viel breiter als hoch waren und den Eindruck von querstehenden Schießscharten vermittelten. Das war wohl modern gewesen, als das Haus umgebaut wurde.
Die Schreibtischoberfläche war perfekt aufgeräumt. Hier war nichts zu holen. Die Schubladen waren nie verschlossen. Sabine hatte oft hineingesehen, wenn sie sauber gemacht hatte. Dort waren hauptsächlich Büroutensilien untergebracht sowie Unterlagen aus dem Studium ihres Mannes. Neuerdings auch Projektkonzepte, hochprofessionell gemacht, bunte Broschüren, von denen Sabine nicht wusste, ob ihr Mann sie selbst am Computer erstellte oder irgendwo besorgt hatte. Man konnte ja heutzutage alles Mögliche am Computer «runterladen», das wusste sie von Basti. Sie traute sich nicht, Bert danach zu fragen, wollte ihn nicht verletzen. Er gab sich nach wie vor als der große Ingenieur. Abgesehen davon: Fühlte er sich verletzt oder bloßgestellt, wurde er gänzlich unerträglich. Und sie musste es dann ausbaden, musste mit tausend Entschuldigungen, Liebesworten und Verwöhnleistungen zu Kreuze kriechen.
Sabine ging zielstrebig zum Aktenschrank. Nüchternes hellbeiges Metall, klassische Büroware, im Jahr nach ihrem Einzug gekauft. Der Aktenschrank war stets verschlossen. Einmal, ein einziges Mal, hatte sie ihren Mann dabei erwischt, wie er den Schlüssel des Aktenschranks, wie er glaubte, unauffällig, verschwinden ließ. Hoffentlich war er noch an der gleichen Stelle, hinter dem Schrank, der zehn Zentimeter von der Wand abgerückt stand. Dies sei wichtig, damit sich dort kein Schimmel bilde, hatte ihr Mann ihr damals erklärt. Es handele sich zwar nicht um eine Außenwand, doch sie grenze an die unbeheizte Garage. Hier könne sich Kondenswasser absetzen, wenn an die Wand nicht ausreichend Luft gelange.
Sabine griff also hinter den Schrank, suchte. Tatsächlich, da war der kleine Schlüssel, mit einem Magneten auf der Rückwand angebracht. Sie nahm ihn und schloss damit das Metallrollo auf, das die obere Hälfte des Schranks absicherte.
Da standen an die zwanzig Ordner in Reih und Glied. Gedruckte Etiketten mit Jahreszahlen klebten auf den Rücken. Der älteste Ordner war von 1998. Sabine zog ihn heraus, blätterte. Ihr wurde
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