Staustufe (German Edition)
Indizien hatte, packte man so etwas ganz anders an. Dann bestand auch nicht die Gefahr, sich vor der Presse zu blamieren.
Winters Handy klingelte. Es war Carola. Er hatte seine Frau während des Verhörs schon mehrfach weggedrückt. Nun nahm er das Gespräch an.
«Hallo», sagte Carola. «Endlich gehst du dran. Darf man fragen, wann du heute kommst?»
«Bald, Schatz.»
«Ist dir eigentlich klar, dass deine Tochter heute nach der Schule nicht nach Hause gekommen ist?»
Woher sollte er das denn wissen? Und was sollte der schlecht verhohlene Vorwurf schon wieder? Weil er gestern mit Sara gestritten hatte?
«Nein, das war mir nicht klar. Aber es ist ja auch noch gar nicht so spät.» Er sah auf die Uhr: gerade mal neun. «Bestimmt kommt sie noch.»
«Da wäre ich mir nicht so sicher.»
Winter beendete das unerfreuliche Gespräch, während eine Reihe ebenso unerfreulicher Hypothesen betreffs seiner Tochter sich in ihm aufbauten.
«Wissen Sie, was noch sein kann?» Das war die Aksoy, die sofort einhakte, als er das Handy zuklappte.
Winter seufzte. Frauen zerrieben einem die Nerven. Es war doch wirklich so. Wer machte zu Hause keine Probleme? Sein Sohn.
«Ich weiß jetzt, was passiert ist», redete Aksoy hastig weiter.
Winter sandte die Augen gen Himmel. «Ach, tatsächlich», sagte er. «Schießen Sie los.»
«Das Mainmädchen wurde von Benedetti hinausgeworfen. Sie war verzweifelt, hat versucht, den Naumann als neuen Gönner zu gewinnen, was aber misslang. Dann hat sie sich zum Suizid entschlossen. Vielleicht sollte es auch bloß ein Hilferuf sein. Sie hat sich jedenfalls mit einem Messer in den Bauch gestochen, an dem Treffpunkt, an dem sie mit Benedetti zur Übergabe des Flugtickets verabredet war. Dann ist sie verblutet. Benedetti hat sie tot oder komatös gefunden. Er hat automatisch angenommen, Eleni Serdaris wäre die Täterin. Weil er die Serdaris schützen wollte, hat er das Mädchen zunächst in einem Gebüsch versteckt. In der Nacht ist er wiedergekommen, hat die Leiche auf die Staustufe geschleppt und sie in den Main geworfen. Die Gesichtsverletzungen sind entweder zufällig beim Fallen entstanden. Oder er hat ihr das Gesicht vorher mit einem Stein zerschlagen, um sie unkenntlich zu machen.»
Wieder einmal war Winter verblüfft. Das hörte sich doch geradezu plausibel an … doch dann fing er sich. Achtzehn Stiche in den Bauch, selbst zugefügt? Das war unmöglich. Aber dennoch …
«Aksoy, Sie machen mich ganz schwindelig. Sie haben zu viel Phantasie. Ihnen fallen tausend Szenarien ein. Wenn man denen allen nachgeht, wird man nie fertig.»
«Ist das so? Also, ich finde, wenn man sich zu früh auf eine Möglichkeit versteift, dann sieht man die anderen nicht mehr. Ich finde, man muss nach allen Seiten offenbleiben.»
Nach allen Seiten offen. Das war sie. Und schämte sich nicht, ihn, den wesentlich erfahreneren Kollegen, zu kritisieren. Mit dem «Versteifen auf eine Möglichkeit» war garantiert Winters Annahme gemeint, dass Eleni Serdaris die Tat begangen hatte. Nach dem fruchtlosen Verlauf des heutigen Abends war Winter erneut überzeugt, damit richtig zu liegen.
«So, Frau Aksoy, wir machen jetzt Schluss. Die Diskussionen bringen nichts. Und bitte überlegen Sie sich, wie wir den ganzen Schlamassel morgen Fock verkaufen wollen.»
In der folgenden Nacht wünschte sich Winter, dass die Probleme im Job und mit Kollegin Aksoy seine einzigen wären.
Sara kam und kam nicht nach Hause. Mehrere Schulfreundinnen, die er gegen zehn anrief, hatten nicht die geringste Ahnung, wo Sara sich aufhielt. Eine teilte mit, Sara habe sich «umorientiert», die habe doch gar nichts mehr mit ihr zu tun. Eine zweite erklärte, auch sie frage sich, was mit Sara neuerdings los sei, und dass sie wohl in schlechte Kreise abdrifte. Und sie glaube, dieser Selim sei ein «Lover Boy». «Ein was?», hatte Winter gefragt. Ob er davon noch nichts gehört habe, wunderte sich das Mädchen. Das seien die Typen, die ein Mädchen psychisch von sich abhängig machten, und dann würden die Mädels freiwillig für sie anschaffen gehen. Nein, sie kenne diesen Selim nicht. Sie habe nur gehört, dass die Türken das oft machen würden. Schließlich stellte sich heraus, die junge Dame bezog ihre Erkenntnisse aus einem Fernsehbericht über die Niederlande.
Die dritte Freundin wurde rotzfrech. «Ey, Herr Winter, Sie können mich doch nicht jedes Mal anrufen, wenn die Sara um zehn noch nicht zu Hause ist! Also, ich glaub echt, Sie
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