Staustufe (German Edition)
fühlte sich an, als hätte jemand mit der Faust hineingeschlagen. Jetzt war alles egal.
«Frau Aksoy, mir geht es nicht gut. Ich muss nach Hause.»
Er nahm einfach seine Jacke und ging wieder. Die Aksoy entließ ihn wortlos, zum Glück. Nur die Information zurückdrängen, abwehren, bis er zu Hause war. Das Entsetzliche war ohnehin zu groß, um es so schnell zu fassen.
Zu Hause stieg er die Treppen hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend, als erwarte ihn oben die Erlösung. In der Wohnung angekommen, zwang Winter sich, so normal er irgend konnte, «Ist Sara da?» zu rufen. Das Sprechen drückte auf seinen mitgenommenen Magen. «Nein, wieso auch», kam es schnippisch von seiner Frau aus der Küche.
Winter ersparte sich zunächst Weiteres, stolperte in Saras Zimmer, wo sie natürlich nicht war, und legte sich auf ihr Bett. Das Kissen roch nach ihr. Er erlaubte es sich zu weinen.
Nach etwa zehn Minuten hatte er die Kraft, Aksoys Nummer zu wählen. Jetzt musste er einfach Gewissheit haben. Doch Aksoys Telefon war besetzt.
Winters Abgang ließ Aksoy erschrocken zurück. Er war leichenblass geworden. Wahrscheinlich war ihm übel. Magen-Darm-Infekt? Aber irgendwie hatte es so gewirkt, als sei die Übelkeit eine Reaktion auf die Nachricht von der Wasserleiche. Die Szene erinnerte sie an ihre allererste Begegnung mit Eleni Serdaris, an deren Zusammenbruch nach ihren Fragen. Aksoy schüttelte den Kopf, um sich von dem Eindruck zu befreien.
So. Nun hätte sie den heutigen Höllentag allein am Hals. Immerhin würde Fock nach dem neuen Leichenfund einsehen, dass die Ermittlungen alles andere als abgeschlossen waren. Aksoy formulierte ihren gestern Abend geschriebenen Mailentwurf an Fock nicht um, sondern fügte nur ein Postskriptum hinzu, worin sie von dem neuerlichen Leichenfund berichtete und den Zusammenhang herstellte. Dann seufzte sie und tat, was jetzt als Erstes getan werden musste: Sie rief Vermisstenmeldungen aus der Region auf.
Die neueste, von heute Nacht: Sara Winter. Alter: 16.
Sara Winter. Das süße Pferdeschwanz-Mädchen von der Konstablerwache. Aksoys übelste Befürchtungen verdichteten sich. Hatte sie es gestern Abend nicht geahnt, dass die schwarzen Gestalten auf der Brücke die jungen Leute von der Konsti waren? Sie hatte ihnen von dem Todesfall erzählt. Sie hatte die Jugendlichen wohl auf die Idee gebracht, am Main irgendein tödliches Ritual zu vollziehen. Aksoy fühlte sich furchtbar.
Dann sah sie den Namen dessen, der die Anzeige aufgegeben hatte. Andreas Winter, Polizeibeamter, Vater der Vermissten.
Das war ja unerträglich.
Der Bildschirm verschwamm. Aksoy hatte Tränen in den Augen. Gott, der arme Winter. Dann nahm sie sich zusammen. Nicht in Panik geraten. Sie musste jetzt für Winter mit die Verantwortung tragen.
Sie tat das Nächstliegende. Nie die einfachsten Mittel vergessen, lernte man auf der Polizeiakademie. Sie rief bei Sara Winter an. Die Handynummer hatte sie ja. Natürlich bekam sie die Mailbox. Aber so wie sie die jungen Leute kannte, war das nicht ungewöhnlich. Sie schickte eine SMS. Hallo, Sara, ich müsste Sie kurz sprechen. Ob Sie mich wohl rasch anrufen könnten? Vielen Dank, Ihre Hilal Aksoy (Kripo).
Ein paar Minuten später klingelte das Handy. Binnen weniger als einer Sekunde hatte sie es am Ohr. «Aksoy.»
«Ähm, hallo, hier ist Sara.» Die Stimme klang rau, etwas aufgeregt. «Also, ich glaub ja nicht, dass ich Ihnen helfen kann, aber …» Sara hielt verwirrt inne. Aksoy hatte am anderen Ende der Leitung vor Erleichterung lauthals zu lachen begonnen. «Ach, Frau Winter, Sie ahnen ja gar nicht», rief Aksoy jetzt. «Ich bin so froh, dass Sie drangehen. Wir – eben habe ich gesehen, Ihr Vater hatte Sie heute Nacht als vermisst gemeldet …» («Was?», tönte es entsetzt vom anderen Ende.) «… ja, tatsächlich, und da habe ich auch erst gesehen, dass Ihr Vater ein Kollege ist. Jedenfalls habe ich ein bisschen befürchtet, Sie könnten jetzt das nächste tote Mädchen sein. – Sara, ich habe tatsächlich noch eine Frage an Sie. Aber vielleicht melden Sie sich erst bei Ihrem Vater, dass Sie gesund und wohlauf sind. Der sorgt sich bestimmt zu Tode.»
Erschrockenes Schweigen am anderen Ende.
«Oder soll ich das übernehmen? Soll ich Ihren Vater anrufen?»
«Ja, bitte, das wär echt nett.»
«Soll ich ihm denn irgendwas sagen, wo Sie gerade sind?»
«Ähm, also, ich bin jetzt hier ganz normal in der Schule. Im Pausenraum. Bloß, ich schwänz halt grad
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