Staustufe (German Edition)
Sport, die ersten beiden Stunden. Wär nicht so gut, wenn mein Vater das erfährt. Zu Englisch geh ich dann. Das ist um Viertel vor zehn.»
«Okay, prima. Dann kann ich Sie vielleicht gleich noch mal erreichen. Wie gesagt, ich hab noch eine Frage. Aber jetzt freue ich mich erst mal, dass es Ihnen gutgeht. Bis gleich dann.»
Winter lag noch immer auf Saras Bett, als sein Handy klingelte.
«Ja?»
«Herr Winter? Gute Nachrichten. Ihrer Tochter geht es gut. Ich hatte nämlich eben gesehen …»
Aber er hörte schon gar nicht mehr hin, so euphorisch war er. «Ach, Gott sei Dank, Gott sei Dank», rief er mehrfach.
«Sara ist in der Schule oder auf dem Weg dorthin», erzählte Aksoy, «ich habe eben mit ihr gesprochen. Die neue Wasserleiche ist wahrscheinlich sowieso männlich. Es ist nur noch nicht ganz sicher, weil sie noch nicht geborgen ist, und die Haare sind wohl länger. Aber die Kollegen meinten, es ist eher ein Junge. Das hätte ich Ihnen gleich gesagt, wenn ich vorhin im Geringsten geahnt hätte … egal, das ist ja nun geklärt. Wie geht es Ihnen denn?»
«Gut, bestens.» Winter war wattig im Kopf und nicht ganz bei sich. Seit wann wusste eigentlich die Aksoy, dass Sara seine Tochter war? Ach, unwichtig.
Er kündigte an, dass er in einer halben Stunde spätestens im Präsidium eintreffen werde, und entschuldigte seinen überstürzten Aufbruch heute Morgen. In dem Moment war ihm das alles nicht einmal peinlich vor der Aksoy. All diese Dinge waren plötzlich so unwichtig.
«Gott sei Dank», sagte er noch einmal zu sich, auf Saras Bett sitzend, als er aufgelegt hatte.
Beschwingt ging er in die Küche.
«Sara lebt, ihr geht es gut!», rief er.
«Mit nichts anderem hatte ich gerechnet», sagte seine Frau sauertöpfisch. «Madame amüsiert sich die ganze Nacht, und es ist ihr scheißegal, ob sich ihre Eltern zu Hause vor Sorge verzehren.»
Fünf Minuten später rief Winter seine Tochter an. Sie nahm ab, und er fragte sie als Erstes bitterböse, was sie sich denn dabei gedacht habe, die ganze Nacht wegzubleiben. Fast unmittelbar danach wünschte er sich, er hätte es anders angefangen. Das Gespräch endete unharmonisch.
Auf dem Main lag ein Boot der Wasserpolizei. Darauf und daneben Taucher in glänzenden schwarzen Anzügen mit signalgelben Gasflaschen. Am Ufer und um die Staustufe sah man Tatortspezialisten in weißen Overalls, weiträumige Absperrungen mit Plastikband, einen Rettungswagen, grüne und blaue Polizeiautos – all das zum zweiten Mal binnen einer Woche.
Ein paar Anwohner des Griesheimer Mainufers standen im Umkreis, redeten mit gedämpften Stimmen. Fremde gestanden sich, man bekomme hier allmählich Angst. Die Angler packten ihre Sachen. Einer scherzte grob, dass der dicke Zander im Eimer eines anderen von Leichenfleisch so fett geworden sei. Ein anderer erklärte, er werde künftig aufs Angeln verzichten. Ein weiterer fragte sich, ob man nicht von der Stadt das Geld für die Angelstelle zurückverlangen solle. Regelmäßige Spaziergängerinnen unter den Anwohnern schworen sich, nie wieder allein oder in der Dunkelheit hierherzukommen.
Nur Sabine Stolze empfand anders. Sie beobachtete die Szenen am Mainufer vom Fenster aus. Stehend, weil das Wohnzimmerfenster so weit oben angesetzt war. Das «Wohnzimmer» war ein nur neun Quadratmeter großer Raum im Erdgeschoss. Vom Architekten war er höchstwahrscheinlich als Arbeitszimmer, Gästezimmer oder Hauswirtschaftsraum gedacht. Sie hatten hier auf engstem Raum ein Sofa, zwei Sessel, einen Couchtisch und den Fernseher stehen. In gewisser Weise machte die Enge das Zimmer gemütlich. Nur das zu kleine, zu weit oben in der Wand liegende Fenster hatte Sabine Stolze immer gestört. Es gab dem Raum ein kerkerartiges Ambiente. Wie eine Gefängniszelle. Und tatsächlich verglich Sabine Stolze ihre Lage in diesem Haus oft mit der einer Gefangenen.
Aber heute schlug ihr Herz ganz frei. Eine große Bedrückung war von ihr gefallen. Noch eine Leiche! Das hieß, das tote Mädchen vom Samstag hatte nichts mit ihnen zu tun. Gott sei Dank. Was hatte sie sich da wieder eingeredet! Sie war doch fast schon verrückt. Ständig diese Albträume und Ängste. Irgendwelche Bandenkriege unter Jugendlichen waren das hier bestimmt. Oder Ritualmorde. Sie hatte gestern Abend vom Schlafzimmer aus eine Gruppe Schwarzgekleideter die Treppe zur Staustufe nehmen sehen. In langen Gewändern. Hatten ausgesehen wie große Raben.
Aber ihr hatten sie kein Unglück
Weitere Kostenlose Bücher