Staustufe (German Edition)
Licht zu sehen. Die Leute hatten die Rollläden heruntergelassen. Das hier war wirklich ein besonderer Platz. Sie mussten im Sommer wiederkommen.
Sara glaubte eigentlich nicht daran, dass das Mädchen getötet worden war. Zwar hatte ihr Vater das behauptet. Gesicht brutal eingeschlagen, hatte er gesagt. Aber der erzählte wahrscheinlich jeden Scheiß, um ihr Angst vor Selim zu machen. Aus dem Fahndungsplakat ging überhaupt nicht hervor, dass das Mädchen umgebracht worden war. Und die Bullenfrau hatte gesagt, das sei nur ein Verdacht. Die war eigentlich ganz nett gewesen. Nicht so wie ihr Vater. Aber die konnte sie jetzt auch nicht mehr anrufen.
Seit Sara hier war, seit sie den Ort gesehen hatte, glaubte sie zu wissen, was mit dem Mädchen geschehen war. Sie spürte es wie eine Erinnerung. Wahrscheinlich besaß sie einen siebten Sinn. Oder das Mädchen versuchte, sie aus irgendeiner Zwischenwelt zu erreichen. Ihre Seele schwebte womöglich gerade um sie herum.
Jedenfalls spürte Sara an diesem Ort eine große Todessehnsucht. Sie wusste nicht, ob es ihre eigene war oder die des Mädchens. Aber sie glaubte jetzt ziemlich sicher, dass sich das Mädchen selbst umgebracht hatte. Das Wasser hatte sie gerufen.
Sara lehnte sich über die Brüstung, suchte mit den Augen auf der Wasserfläche die Blumen. Vorhin war noch alles voll davon gewesen. Jetzt schwamm hier bloß noch eine vereinzelte Tulpe herum, winzig und farblos unten im dunklen Wasser. Die Blume hatte einen Rechtsdrall. Sara folgte der Schwimmrichtung mit den Augen. Weiter drüben sah sie auch ein paar andere Blüten aufblitzen und noch weiter rechts unruhiges Wasser, einen Strudel: Dort gab es eine Stelle, wo die Blumen nach unten gesogen wurden. Sara erschauderte.
Von rechts kamen Schritte. Ein nächtlicher Fußgänger, noch achtzig, hundert Meter weit weg, der von Goldstein oder Alt-Schwanheim über die Brücke nach Griesheim wollte. In der Stille klangen die Schritte unheimlich. Sara sah nicht hin, rührte sich nicht. Wie ein Tier, das stillhält, weil es nicht gesehen werden will. Das Wort Totstellen fiel Sara ein. Dann: Totenstarre. Aber das war etwas anderes. Gleich würden die Schritte direkt neben ihr sein. Sie klangen zielstrebig, wurden nicht langsamer. Gut. Gleich wäre der Mann an ihr vorüber.
Doch die Schritte bogen zu ihr auf die Aussichtsplattform ein. Sara stockte der Atem. Zwei Tritte noch, dann war der Fremde bei ihr, und Sara spürte eisiges Metall in ihrem Nacken. Sie schrie. Selim lachte. Sara lachte auch, quiekte, schüttelte sich vor Erleichterung.
«Sara, du Angsthase», sagte Selim. Er lehnte sich mit dem Rücken und seiner Lederjacke gegen die Brüstung, warf die halblangen Haare zurück und sah sie an. Selim war groß für einen Türken, sehr schlank, schmalgesichtig mit einer schön geschwungenen Nase, die sie an einen Raubvogel erinnerte. Er war dreiundzwanzig, nannte sich Geschäftsmann und betrieb einen Club. Sara bewunderte ihn. Aber sie wusste nie, ob er sie bloß für ein nettes Kind hielt oder ob er sie ernst nahm. Als Frau ernst nahm. Ob er sie überhaupt als Freundin in Erwägung zog. Denn im Gegensatz zu dem, was ihre Eltern glaubten (und was sie niemals abgestritten hatte, so stolz war sie auf den bloßen Verdacht), im Gegensatz dazu war sie mitnichten seine Freundin. Sie wusste auch nicht, ob er eine hatte. Eine feste jedenfalls. Haben konnte er jede. In seinem Club gab es viele Mädchen, die ihn bei jeder Gelegenheit betatschten und ihm ein Küsschen gaben. Aber Sara glaubte, dass das alles nur oberflächlich war. Das ihm keine wirklich nahe war.
«Hier ist das also passiert», sagte er jetzt, wandte sich zum Fluss und sah ins Wasser. Er stand reglos.
«Hast du sie geliebt?», fragte Sara nach einer Weile.
Er drehte sich wieder zu ihr um. «Schwere Frage. Ich weiß nicht. – Aber weißt du, was ich weiß?»
«Nein. Was denn?» Eine unglaubliche Hoffnung keimte in Sara auf.
«Sie hat mich nicht geliebt.» Er wandte sich wieder zum Wasser. Sara fühlte Enttäuschung. Sie steckte ihre Hände in die Manteltaschen. Sie fror. Vor allem hatte sie Eisfüße. Die Nietenstiefel sogen über das Metall die Bodenkälte in die Schuhe. Und unter dem Mantel trug sie nur knappste Bekleidung.
«Sara», begann Selim, mit den Ellenbogen auf der Brüstung. «Sara, verrat mir was. Bist du noch Jungfrau?» Er sah übers Wasser, nicht zu ihr.
Sara blieb keine Zeit, über die Frage nachzudenken.
«Ja», sagte sie, «ja, bin ich.
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