Staustufe (German Edition)
spinnen irgendwie!»
Um zwei Uhr nachts war Sara noch immer nicht da. Winter kämpfte mit düsteren Gedanken, während er auf dem Wohnzimmersofa lag und wartete. Wenn er die Augen schloss, kamen Bilder von den schwarzen Menschensilhouetten an der Staustufe heute Abend. Bilder von Stichen in weiße Mädchenbäuche. Sicher war Sara unglücklich seit dem Streit mit ihm gestern, und zweifellos gehörte sie zu einer Jugendkultur, die, wie Aksoy es ausgedrückt hatte, den Tod verherrlichte. Von möglichen Horrorszenarien mit diesem Selim ganz zu schweigen.
Immer wieder raffte sich Winter vom Sofa auf, streifte durch die Wohnung, pendelte zwischen Saras Zimmer mit den gruseligen Bildern an den Wänden und dem Wohnzimmer hin und her, schwor sich, wenn Sara nur wiederkäme, werde er sich nie wieder über eine nervende, ihn sabotierende Aksoy oder sonst irgendwelche Alltagssorgen bei der Arbeit ärgern.
Um drei Uhr kämpfte er mit der Entscheidung, seine eigene Tochter bei den Kollegen als vermisst zu melden. Sara war noch nie bis in die Nacht fortgeblieben. Er wusste, dass Jugendliche in diesem Alter meist von selbst wieder zurückkamen. Aber es gab genügend Fälle, wo es nicht so glimpflich ausging. Und dann war da noch Selim. Selim, der laut Winters Frau aus kriminellen Kreisen kam. Der das Mainmädchen gekannt hatte und den Sara zu dem Mädchen befragen wollte. Wenn nun Selim etwas mit dem Tod des Mainmädchens zu tun hatte …
Gegen vier wurde Winter klar, dass der Grund, warum er noch keine Vermisstenanzeige erstattet hatte, Scham war. Scham vor den Kollegen. Und das war kein guter Grund. Die väterliche Verantwortung gebot zu handeln.
Winter fühlte sich sofort besser, als der Entschluss gefasst war. Er ging den gewöhnlichen Weg, wählte die Nummer der örtlichen Polizeidienststelle. Während das Freizeichen tönte, sah er durchs Fenster nach draußen. Das Straßenlicht schimmerte rötlich. Am Haus gegenüber war kein einziges Fenster erleuchtet.
«Polizeirevier Nordend.» Der Kollege klang amüsiert und übermüdet, im Hintergrund hörte Winter Lachen. Vor seinem inneren Auge sah er sofort die Wache vor sich, in der er früher selbst Nachtdienst geschoben hatte.
«Winter, Kriminalhauptkommissar. Ich rufe in eigener Sache an. Meine Tochter ist heute, also gestern, nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Sie ist sechzehn, aber das ist noch nie passiert.»
Der Kollege wurde höflich, professionell. Ging die Formalien mit ihm durch. Am Ende beruhigte er ihn, das werde schon wieder, die Kleine sei bestimmt morgen Mittag zurück. Winter sagte, das hoffe er auch.
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7
Der folgende Morgen war der schlimmste, den Winter je erlebt hatte.
Um neun betrat er das Büro, geschafft nach der in Sorge verbrachten Nacht. Natürlich war Aksoy vor ihm da. Wie jeden Morgen. Doch über solche Lappalien wollte er sich ja nicht mehr ärgern.
Winter hatte zu Hause kurz überlegt, ob er sich krankmelden sollte. Dann hatte er sich dagegen entschieden. Gut, er hatte ein paar Nächte kaum geschlafen. Aber das war kein Grund. Und für Sara konnte er nichts tun, auch von zu Hause aus nicht. Vielleicht half ihm die Ablenkung sogar. Es bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass Sara heute Mittag wie gewöhnlich aus der Schule nach Hause kam. Oder gebracht wurde. Die Kollegen von der Polizeidienststelle hatten heute früh bereits in Saras Schule angerufen und um Rückruf gebeten, falls Sara dort erschien.
Die Aksoy sah heute auch nicht gut aus. Übernächtigt. Bleich. Besorgt.
Winter zog seine Outdoor-Jacke aus. Es war in der klaren Nacht knackig kalt geworden.
«Herr Winter, ich habe schlechte Nachrichten.»
Sein Herz sank in die Magengrube. «Ja?», murmelte er schwach und drehte sich zu ihr um.
«Wir haben eine weitere Leiche. Im Main. An der Staustufe. Dieser sogenannte Rechen am Wehr ist verstopft. Die haben heute Nacht eine elektronische Warnmeldung bekommen, dass sich was Größeres da verfangen hat. Als es hell wurde, kam die Reinigungsfirma, und sie haben den Rechen hochgezogen. Jugendliche Wasserleiche, wie es scheint, ganz frisch. Schwarz angezogen. Die Kollegen sind noch bei der Bergung. Ich fürchte Suizid. Ritueller Suizid. Und wir haben gestern einen Teil davon beobachtet. Und nicht eingegriffen. Wir Vollidioten.»
Ihre Stimme zitterte. Doch Winter registrierte es kaum. Seine Zunge hatte sich in ein trockenes Reibeisen verwandelt und verfing sich am ebenso trockenen Gaumen. Sein Magen
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