Staustufe (German Edition)
gebracht.
Aksoy und Winter trafen sich bei der Staustufe am Main. Es war windig, leicht regnerisch, mit schnell ziehenden Wolken. Von hoch oben kamen die Schreie von Wildgänsen, die in Pfeilformation den Fluss entlang nach Westen zogen. Ein Schwarm folgte dem nächsten. Das schien hier eine regelrechte Gänse-Autobahn zu sein. Winter sah immer wieder verstohlen gen Himmel. Er konnte sich nach all der Aufregung um Sara nicht richtig konzentrieren.
Man hatte den Toten befreit und zur Schwanheim-Goldsteiner Mainseite gebracht. Winter und Aksoy kamen von der Griesheimer Seite und marschierten mit Gummiüberziehern an den Schuhen über die polizeilich abgesperrte Fußgängerbrücke. Der Boden der Brücke bestand aus Metallgitter. Man konnte durchs Gitter auf das bewegte Wasser zehn Meter weiter unten sehen. Winter spürte leichten Schwindel, als er unter sich blickte.
Die Kollegen hatten schon durchgegeben, dass man hier ein völlig anderes Bild vor sich habe als bei der Mädchenleiche vom Samstag. «Friedlich», hatte einer den Anblick genannt.
Doch als Winter und Aksoy hinter den Schleusen die Treppe hinunterstiegen, war von Frieden keine Rede. Über den halb entkleideten, bläulich verfärbten Körper war ein Rettungssanitäter gebeugt und drückte mit voller Kraft rhythmisch die schmale Brust zusammen. Ein zweiter Sanitäter hockte neben dem Kopf und hielt einen Beatmungsbeutel. Der Jugendliche hatte einen Schlauch im Hals stecken und einen Tropf in der Armvene.
«Der reine Schwachsinn ist das», hörte Winter einen der Umstehenden sagen, wahrscheinlich ein Schleusen- oder E-Werk-Arbeiter. «Der war die halbe Nacht unter Wasser, der lebt doch net mehr.»
Der Arzt, jemand von der Uniklinik, war aber der Ansicht gewesen, dass man es versuchen müsse. In kaltem Wasser habe es schon öfter Überraschungen gegeben, besonders bei Kindern. Er erzählte die Geschichte einer jungen Frau, die in einem eisigen norwegischen Bergbach angeblich vierundzwanzig Stunden unter Wasser gewesen sei und doch weitergelebt habe.
Wir sind doch hier nicht in der Arktis, dachte Winter. Wie kalt konnte denn das Frankfurter Mainwasser an einem Novembertag sein? Winter schätzte die Lufttemperatur heute auf drei, vier Grad. Das Wasser war sicher viel wärmer.
Während die Sanitäter sich abkämpften, umrundeten er und Aksoy die liegende Gestalt. Ein Junge, von zartem Knochenbau, mit leichtem Fettansatz am Bauch, irgendwo zwischen vierzehn und achtzehn. Die Oberbekleidung war ein klassischer Dufflecoat in Schwarz, darunter sah man modische Kleidung in helleren Farben, an den Füßen das, was sich heutzutage Sneakers nannte und früher schlicht Turnschuhe hieß.
«Sieht nicht nach Gothic oder Metal aus», murmelte Aksoy kryptisch. Ach, diese Jugendkulturen, dachte Winter. Zu seiner Schulzeit gab es Popper, Punker und Alternative. Was auch immer danach aufkam, hatte er nicht recht mitbekommen. «Ziemlich eindeutig ertrunken diesmal», ergänzte Aksoy leise, so als wolle sie den sicher ohnehin längst Toten nicht in seinem Überlebenskampf stören. Winter nickte. Er fand es schrecklich, wie dem reglosen Jungen rhythmisch Fäuste in den Brustkorb gerammt wurden. Einmal knackte es, als brächen die Rippen. Unwillkürlich fielen Winter Berichte von Wiederbelebten ein, die angeblich ihre Reanimation mitbekommen hatten, über der Szene schwebend, spürend, wie man sie zwingen wollte, in den Körper zurückzukehren, was sie meistens gar nicht wollten. Ihn schauderte. Ob an diesen Erzählungen etwas dran war?
Nach ihrem Rundgang um den ganz oder fast Toten hatten sie jetzt wieder den Arzt erreicht. Der, jung, drahtig und kahlköpfig, stand mit der Uhr in der Hand neben dem Ambulanzwagen und verfolgte die Szene.
«Eindeutig Tod durch Ertrinken, oder?», fragte Winter.
«Sieht so aus», sagte der Arzt. «Haben sie die Bläue an den Lippen gesehen? Was soll das sonst sein. Ihre Experten werden sicher noch feststellen, ob Alkohol im Spiel war. Meistens ertrinken die Leute ja im Suff.»
«Wie lange soll das hier noch gehen?», fragte Winter und deutete auf die Sanitäter.
Der Arzt sah ihn streng an. Eine halbe Stunde müsse man geben. Eigentlich müssten sie den Jungen auch noch mitnehmen und wärmen. Es gebe da eine Regel, Ertrunkene sollten nie für tot erklärt werden, bevor man sie aufgewärmt habe.
Von oben kam wieder heiseres Gänsegeschrei. Winter sah Aksoy vielsagend an. «Ich spreche noch mal mit Freimann», sagte er. «Dann gehen
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