Staustufe (German Edition)
hatte ihre drei Kandidaten beim Ansehen der Bilder genau beobachtet. Und sie hatte das Gefühl …
«Irgendwie sieht man ja auch nicht richtig was», beschwerte sich Ben. «Ich meine, keine Klamotten oder so. Und irgendwie sind so Bilder ja auch voll unnatürlich. Lebendig sieht der bestimmt ganz anders aus. Wie heißt der denn?»
«Das wissen wir eben nicht.»
Es war jetzt vier Uhr nachmittags. Sie hatten noch immer keine passende Vermisstenmeldung hereinbekommen. Der Rechtsmediziner schätzte den Jungen auf fünfzehn, vielleicht sechzehn. Die Technik an der Staustufe hatte nachts um zwölf Alarm geschlagen. Der Junge musste irgendwann davor ins Wasser gefallen sein. Er war also seit mindestens gestern Abend vermisst. Die Eltern müssten eigentlich längst durchdrehen vor Sorge.
«Und du, Sara?», fragte sie. «Kennst du ihn?»
«Glaub nicht, nee. Das Gesicht sagt mir jetzt nichts.»
Das klang wenig überzeugend. Und Aksoy glaubte, vorhin großes Erschrecken bei Sara gesehen zu haben.
«Er trug einen schwarzen Dufflecoat», half sie Saras Erinnerung nach.
Keine Reaktion. Aksoy sammelte die Bilder wieder ein.
«Wir haben ihn heute früh an der Staustufe aus dem Main gefischt», erläuterte sie. «Er ist wohl ertrunken. Wahrscheinlich heute Nacht. Wer von Ihnen war das eigentlich, den ich gestern Abend auf der Brüstung der Aussichtsplattform balancieren gesehen habe?»
Jetzt sah Ben Bornscheuer erschrocken aus. Elisabeth kaute bloß gelangweilt auf ihrem Kaugummi. Sie wusste wohl schon von Sara, dass Polizisten sie gestern beobachtet hatten. Oder sie war ein phlegmatischer Charakter mit wenig Phantasie. Ben hingegen wurde zusehends erregter. «Wie, Sie haben uns gesehen? Werden wir jetzt observiert, oder was? – Das ist doch …!» Aus Protest sprang er auf.
Aksoy wiegelte freundlich ab: «Nein, um Himmels willen. Sie werden nicht observiert. Es war ein Zufall. Ich war gestern Abend mit einem Kollegen am Main, weil wir jemanden verhaften mussten. Wir haben Indizien, dass ein Anwohner dort etwas mit dem Tod der jungen Frau zu tun haben könnte. Ich meine das Mädchen, das sich geritzt hat. Und dabei habe ich jemanden mit ausgebreiteten Armen auf der Brüstung stehen sehen. Ich habe natürlich gedacht, da will jemand springen. Irgendjemand ist ja in der Nacht dann auch gesprungen. Aber wohl keiner aus Ihrer Gruppe, oder?»
«Wie Sie sehen», spöttelte Bornscheuer.
«Waren Sie es, der da so wagemutig stand?»
«Was ist das hier, ein Verhör?»
Es lief nicht gut.
«Nein, das hier ist nur eine Befragung. Sie sind freundlicherweise freiwillig hier, um uns zu helfen, die Geschehnisse am Main gestern Abend und heute Nacht besser zu verstehen. Niemand zwingt Sie, uns etwas zu erzählen. Aber es wäre schön, wenn Sie es trotzdem täten.»
«Da fällt mir was ein», sagte Ben Bornscheuer, noch immer stehend, mit hartem Blick. Aksoy schwante Übles.
«Hat die uns nicht mal erzählt, ihr Vater wäre Bulle?» Ben zeigte anklagend auf Sara. «Ey, war das nicht sogar deine Idee, dass wir da zum Main gehen sollen, mit Blümchen und so? Sag mal, was wird hier eigentlich gespielt? Mann, Tim hatte recht. Wir hätten nicht kommen sollen. Ich geh jetzt.»
Aksoy versuchte kurz, ihn von seiner Verschwörungstheorie abzubringen. Doch es hatte wenig Zweck.
«Lass uns künftig in Ruhe, verstanden?», sagte Ben zum Abschied zu Sara, die verkrampft auf ihrem Stuhl saß, die ganze Zeit keinen Ton sagte und offensichtlich mit den Tränen kämpfte.
«Also, ich sag jetzt auch nix mehr», verkündete Elisabeth, als Ben draußen war. Dann sah sie demonstrativ auf die große Wanduhr, in deren Mitte sich eine golden schillernde Göttin Kali wand, und kaute weiter auf ihrem Kaugummi herum. Aksoy fiel ein tätowiertes umgedrehtes Kreuz an Lillys Hals auf.
«Und Sie, Sara?», fragte sie. Aber schon bevor Sara stumm den Kopf schüttelte, kannte Aksoy die Antwort. Natürlich konnte Sara ihr jetzt kein Wort über den gestrigen Abend erzählen, weil sie bei ihren Freunden sonst erst recht als Verräterin dastehen würde.
«Schade», sagte Aksoy, «ich hatte wirklich gehofft, dass Sie alle mir ein bisschen helfen könnten. Wie lange waren Sie gestern Abend denn da? An der Staustufe, meine ich?» Sie sah demonstrativ Elisabeth an. «Keine Ahnung», sagte die provokant. «Fragen Sie doch Sara. Die war auf jeden Fall länger da als wir.»
Aksoy wurde es jetzt unheimlich.
«Stimmt das, Sara?»
Winters Tochter starrte auf die
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