Staustufe (German Edition)
Klienten. Ich bin Psychotherapeutin. Aber ich habe mich definitiv am Mittag von Lenny verabschiedet. Er hat mir dann sogar noch einen Zettel in der Küche hinterlassen, dass er weg ist, zum Abschied.»
«Könnte ich diesen Zettel mal sehen?»
Frau Petzke sah unter der sozialen Maske der gepflegten, selbstbewussten Frau allmählich gestresst aus. Sie war schon Mitte fünfzig; hatte ihr einziges Kind offenbar spät bekommen.
«Also wirklich, was wollen Sie von mir? Sie sind hier falsch, kapieren Sie das nicht?»
«Frau Petzke, es tut mir wirklich sehr leid. Wenn Sie recht haben, umso besser. Aber ich muss es leider sagen: Wir haben sehr guten Grund zu der Annahme, dass es sich bei dem ertrunkenen Jungen um Ihren Lenny handeln könnte. Ich habe hier Fotos des Toten. Da müssten Sie einmal draufsehen. Ich denke, dazu sollten wir uns besser setzen.»
«Ich muss hier überhaupt nichts. Übrigens heiße ich Greiner-Petzke, das hab ich Ihnen schon mal gesagt. Ich kann Leichen nicht sehen. Ich habe da ein Trauma. Verstehen Sie endlich, es kann nicht mein Sohn sein.»
«Wenn Sie sich da so sicher sind – haben Sie ihn denn gesprochen, seit er weggefahren ist?»
«Ich glaube nicht. Lenny ist nicht so ein Muttersöhnchen, dass er mich alle zwei Minuten anruft, wenn er weg ist. Er ist sechzehn, mein Gott. Er ist auch nicht so ein Handytyp, der ständig irgendwelche Ess-Emm-Esse tippt. Wir sind in dieser Familie sehr gegen Handys. Und die haben in Budapest volles Programm. Ich sagte doch, Lenny ist auf einem Musikwettbewerb. Einem Elite-Musikwettbewerb. Er spielt Oboe, auf hohem Niveau.»
«Frau Petzke, ich möchte gerne, dass Sie Lenny jetzt anrufen. Er hat doch sicher ein Handy dabei.»
«Ja, aber nur für den Notfall. Diese Roaming-Gebühren im Ausland – außerdem kann ich ihn jetzt nicht anrufen. Haben Sie mir eben überhaupt zugehört? Der ist mitten in einem Wettbewerb! Er kann es absolut nicht gebrauchen, dass sein Handy klingelt.»
«Höchstwahrscheinlich ist sein Handy so oder so ausgeschaltet. Und ich glaube leider nicht, dass Lenny auf dem Wettbewerb ist. Eine Mitschülerin hat ihn vorgestern Abend hier in Frankfurt gesehen und gesprochen.»
«Sie hören mir wirklich nicht zu. Ich sage doch, er hat den Abendzug genommen.»
«Offenbar nicht, denn die Begegnung fand nach zwanzig Uhr statt, und in Bahnhofsnähe war es nicht.»
«Vielleicht hat das Mädchen sich im Tag getäuscht. Welche Mitschülerin soll denn das gewesen sein? Wie kommen Sie überhaupt dazu, andere nach meinem Sohn auszufragen, bevor Sie bei mir …»
«Ich bin zu Ihnen gekommen, sobald wir einen Namen zu dem Toten hatten.»
In Frau Petzkes Gesicht bewegte sich etwas. «So, jetzt reicht es», murmelte sie, ging zum Telefon, das an der Garderobe positioniert war, und wählte per Automatik eine Nummer. Einige Sekunden später erklang aus der Ferne leise ein Klingelton: Ravels Bolero.
«Er hat das Handy vergessen», sagte Frau Petzke, zum ersten Mal mit echter Sorge in der Stimme.
Aksoy ging dem Klingelton nach, ohne zu fragen, ob sie dürfe. Der immer lauter werdende Bolero führte sie in ein musisch gestaltetes Jugendzimmer. Der Ton kam vom Bett. Aksoy ging vor dem Bett in die Knie, während das Klingeln abbrach und wahrscheinlich die Mailbox anging. Sie tastete kurz, zog unter dem Bett erst einen schweren, offenkundig gefüllten Rollkoffer und dann einen schwarzen Instrumentenkasten hervor. Sie klappte den Kasten auf. Darin lag eine Oboe. Unterdessen war Frau Petzke in der Tür erschienen.
«Er ist nicht gefahren», murmelte sie, als sie das Gepäck ihres Sohnes sah. «Er ist nicht gefahren.»
Sie kam herbei und setzte sich schwer wie ein Stein. Ihre Augen blickten ins Leere.
«Liebe Frau Petzke, ich würde jetzt gern Ihren Mann anrufen. Unter welcher Nummer kann ich ihn erreichen?»
«Taste drei bei der Automatik», sagte Frau Petzke mit rauer Stimme.
Aksoy ging zum Telefon in der Diele. Sie erwischte Herrn Petzke glücklicherweise sofort, wenn auch sehr ungehalten darüber, dass man ihn bei der Arbeit störte. Herr Petzke unterrichtete am Konservatorium. Er sei gerade in einer Unterrichtsstunde, erklärte er.
«Aksoy, Kriminalpolizei. Sie müssen die Stunde leider abbrechen. Ihre Frau braucht Ihre Unterstützung. Es geht um Ihren Sohn. Könnten Sie bitte jetzt nach Hause kommen?»
«Wohin nach Hause, zu mir oder zu ihr?»
«Wohnen Sie nicht zusammen?»
«Nein. Wir haben uns letztes Jahr getrennt.»
Vielleicht hatte die
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