Staustufe (German Edition)
Autor zum Schriftsteller zu werden.»
«Aha», sagte Aksoy. Mein Gott, war der Mann blasiert. «Wann und wo haben Sie denn die Geschädigte Jessica alias Jeannette kennengelernt?»
«Von einer Jessica oder Jeannette weiß ich gar nichts. Ich weiß nur, mir ist irgendwann letzte oder vorletzte Woche ein junges Mädchen aufgefallen, das öfter am Main auf und ab lief. Einmal habe ich sie von meinem Arbeitszimmerfenster aus auf dem Steg des Ruderclubs sitzen sehen. Sie saß da sehr lange und sah aufs Wasser. Da kam mir der Gedanke, sie könnte suizidal sein.»
Kettler, der neben Aksoy saß, zog die einzige Schublade des Tisches auf, holte mehrere Ausdrucke mit jungen weiblichen Phantombildern hervor und breitete sie vor Naumann aus.
«Könnte es eine von denen gewesen sein?»
Gestern hatten die Spezialisten mit der Hilfe von Eleni Serdaris und Nino Benedetti je ein Phantombild des Mädchens «Jeannette» erstellt und dann beide miteinander verschmolzen. Die anderen waren Vergleichsbilder, die Aksoy vorhin rasch noch ausgedruckt hatte.
«Könnte ich einen Moment mit meinem Anwalt – ach nein, nicht nötig. Hier, diese ist ein ähnlicher Typ.»
Aksoy atmete auf, tief und befreit. Er hatte die Richtige getroffen. Jetzt wussten sie wenigstens das eine sicher: Benedettis «Jeannette» war wirklich identisch mit der Toten. Denn dass Naumanns junges Mädchen die Tote war, das war durch die Blutspuren bewiesen.
Sie drehte das Bild zu sich um. Ein unglaublich fragil wirkendes Gesicht. Saß sie jetzt dem Mann gegenüber, der es zertrümmert hatte? Sie verspürte eine leise Übelkeit.
«Sie sagten eben», nahm sie den Faden wieder auf, «das Mädchen hätte auf Sie selbstmordgefährdet gewirkt. Was hat Sie auf die Idee gebracht?»
«Eine gewisse Aura, die von ihr ausging. Man wird sehr sensibel als Schriftsteller. Ich hatte den Eindruck, die ist hier am Main, weil sie überlegt, ob sie sich ins Wasser werfen soll.»
«Von einem Sprung in den Main stirbt man im Allgemeinen nicht.»
«Im Allgemeinen wollen junge Frauen auch nicht sterben, wenn sie sich umzubringen versuchen», konterte er süffisant. «Sie wollen Aufmerksamkeit. Übrigens konnte die Kleine nicht schwimmen.»
Aksoy sah aus dem Augenwinkel, wie die Augen des Anwalts Wohlzogen hinter der Brille glitzerten. Er war leicht zusammengezuckt. Die letzte Information war neu für ihn. Und er hielt sie für eher nicht vorteilhaft für seinen Mandanten.
Aksoy hakte nach.
«Das Mädchen konnte nicht schwimmen? Woher wissen Sie denn das?»
«Wenn ich mich recht entsinne, sagte sie was in der Richtung.» Naumanns Ton klang ausweichend.
«Haben Sie sie denn danach gefragt?»
«Nicht dass ich wüsste. Ich glaube einfach, sie erwähnte so was. Anlässlich der Tatsache, dass ich auf einem Boot lebe.»
Das klang nun wieder plausibel. Es war in heutigen Zeiten der kommunalen Schwimmbadschließungen auch gut vorstellbar, dass ein Mädchen aus schlechten Verhältnissen niemals schwimmen gelernt hatte.
«Okay. Also, Sie sahen von Ihrem Schreibtisch aus das Mädchen auf dem Steg des Ruderclubs sitzen. Was geschah weiter?»
«Ich bin irgendwann raus und habe sie angesprochen. Darüber hat sie sich anscheinend gefreut. Jedenfalls war sie sehr gesprächig. Sehr – wie soll ich sagen – anhänglich. Nein, zutraulich. Wie ein entlaufenes Haustier, das sich zutraulich dem ersten Fremden anschließt. Diesen Eindruck gewann ich.»
«Worüber haben Sie geredet?»
«Die meisten Details sind mir entfallen. Was ich jedoch noch weiß: Sie erzählte eine rührselige Geschichte, des Inhalts etwa, dass sie seit zehn Jahren auf der Straße lebe, weil ihre Eltern sie so schlecht behandelt hätten. Doch sie achte darauf, sich von den schlechten Leuten fernzuhalten, sie übernachte nie dort, wo die anderen Straßenkids seien oder die Penner; zurzeit lebe sie bei einem guten Freund. Es gebe so viele gute Menschen. Und ob ich ihr dieses und jenes aus dem Boot bringen könne? Einen Apfel, ein Glas Wasser. Was ich auch tat. Dann erzählte sie, sie habe immer schon auf einem Hausboot leben wollen. Das sei ihr großer Traum.» Er schnaubte. «Wissen Sie, wie oft ich das zu hören bekomme? Jeder Zweite erzählt mir, er träume davon, auf einem Hausboot zu wohnen. Wenn die Leute wüssten – ich meine, wissen Sie, diese Trägheit und Feigheit der Menschen. Einen Traum zu haben und ihn nicht zu leben wagen. Diese Angst des Spießbürgers, sich jenseits der Konventionen zu bewegen,
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