Staustufe (German Edition)
Trennung Lenny destabilisiert, grübelte Aksoy und dachte an ihre eigenen Kinder. Vielleicht war es sogar gut, dass sie bei der Scheidung noch klein gewesen waren, redete sie sich ein. Yunus, ihr Jüngster, konnte sich an die Zeit, in der sie mit Christoph zusammengelebt hatten, nicht einmal mehr erinnern.
Herr Petzke war so klug, am Telefon nicht weiter nachzufragen, was denn los sei. Und Aksoy hielt sich bedeckt, weil sie vermeiden wollte, dass der Mann unterwegs einen Unfall baute. Er sollte nicht unter Schock fahren.
Frau Petzke saß weiter apathisch auf Lennys Bett, wie gelähmt. Sie konnte nicht einmal weinen.
Dafür weinte der Vater, als er kam und die Nachricht hörte. Er erzählte, Lenny habe sich vor dem Wettbewerb gefürchtet. Er habe mehrfach gesagt, dass er am liebsten nicht fahren wolle. Es sei in der Vergangenheit ein paarmal vorgekommen, dass er versagt habe, wenn er vor großem Publikum solo spielen musste. Daher seine Angst.
«Du bist schuld», brachte die Mutter irgendwann hervor. «Du hast ihn immer so unter Druck gesetzt. Dass er unbedingt Musiker werden muss. Dass er unbedingt zu den Besten gehören muss. Du hast ihn doch bei dem Wettbewerb angemeldet, er wollte ja von Anfang an nicht hin!» Plötzlich nahm sie das Gesicht in die Hände und schrie kurz auf, begann dann endlich zu schluchzen.
Aksoy standen auch schon Tränen in den Augen. Um die Eltern von Selbstbezichtigungen abzuhalten und um überhaupt irgendetwas zu sagen, verwies sie darauf, dass Liebeskummer bei dem Suizid wohl auch eine Rolle gespielt habe. Doch insgeheim glaubte sie jetzt beinahe, dass Lenny sich Saras Abfuhr absichtlich gerade an diesem Tag geholt hatte. Damit er einen Grund mehr hatte, nicht zu fahren, sondern sich stattdessen etwas anzutun.
Am Ende zeigte sie den Eltern pro forma noch die Fotos zur Identifizierung des Toten. Das waren die schlimmsten Momente.
«Müssen wir jetzt nicht in die Rechtsmedizin, ihn ansehen?», fragte der Vater, und in seiner Stimme hörte man die Angst. «Nein, nein, das müssen Sie nicht», beruhigte ihn Aksoy.
Erst nach vier war sie zurück im Präsidium. Sie war ausgelaugt. Winter war natürlich nicht da. Der hatte seine Tochter nach Hause gebracht und war mit ihr dortgeblieben. Vielleicht war es besser so. Aksoy wollte Winter den Verlauf bei Petzkes nicht erzählen müssen. Sie brühte sich einen Tee, rief ein Protokollformular auf und beschloss, den Arbeitstag stressarm mit ein bisschen Getippe zu beenden. Doch ausgerechnet jetzt kam per Mail aus der U-Haft die Nachricht: Der Herr Schriftsteller Naumann wolle nun reden.
Erster Kriminalhauptkommissar Fock rief direkt danach an. Er hatte dieselbe Nachricht erhalten und ließ Aksoy wissen, dass er befohlen habe, den Verdächtigen unverzüglich ins Präsidium zu bringen. Der Transport sei schon unterwegs. Man dürfe die Sache nicht bis morgen aufschieben. Je eher man in der Mainmädchensache weiterkomme, desto besser. Man brauche morgen jeden Mann für die SoKo Krawatte.
«Die Vernehmung machen Sie, aber holen Sie sich den Kollegen Kettler dazu», dekretierte er weiter. «Sie übernehmen auch das Protokoll. Ich habe hier selbst eine dringende Sache im Fall Krawatte. Vielleicht kann ich später mal reinschauen.»
Na bestens. Aksoy rief zu Hause an, um zu sagen, dass sie sich wieder verspäten würde. Hastig nahm sie möglichst viele Schlucke des heißen Tees, um ihre Abgeschlagenheit zumindest etwas zu kurieren.
Die Wachleute nahmen Naumann die Handschellen ab und verließen den Raum. Wohlzogen, der Anwalt, setzte sich groß und massig auf den weißen Klappstuhl direkt neben seinen Mandanten. Seine Anwesenheit würde es noch schwerer machen. Aber Naumann hatte erklärt, nur in Gegenwart seines Anwalts aussagen zu wollen.
Aksoy spürte ihre Hände vor Aufregung schweißnass werden, als sich die Tür des Vernehmungsraums schloss. Von diesem Verhör hing alles ab. Und sie war hauptverantwortlich. Kettler hatte sich in die Akten noch nicht eingearbeitet.
Wie um Himmels willen sollte sie anfangen?
Personalien, natürlich. Überflüssig, weil die längst aufgenommen waren, aber immer gut.
«Sie sind Herr Guido Naumann, geboren am 16. 5. 1955, von Beruf Autor?»
Naumann lächelte süffisant. «Nicht ganz, nicht ganz», sagte er. «Ich bin nicht Autor, sondern Schriftsteller. Autor ist jeder, der schreibt, den Titel Schriftsteller jedoch muss man sich verdienen. Ich hatte freilich das Glück, gleich mit meinem ersten Roman vom
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