Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
ihrer Furcht – der grand peur – vor der drohenden Ankunft des bel anglais , wie die Pariser Marlborough nannten, hatten die Leute auch die Schänken verlassen. An eine Fahrt in einer Kutsche oder auf einem Fuhrwerk war ohnehin nicht zu denken.
Doch während einige Leute fluchtartig die Stadt verließen, profitierten andere von der Situation. Daher hatte Steel in dem Durcheinander Geld für eine Stute bezahlt, ohne groß zu fragen, von wo sie stammte oder wer der frühere Besitzer gewesen sein mochte.
Auf dem Rückweg kam Steel durch geplünderte Landstriche. Niemand stellte dem hochgewachsenen, unrasierten Mann in der roten Weste eines Soldaten Fragen – ein Mann, der mit Gold bezahlte und so rasch verschwand, wie er aufgetaucht war. Gleich nach der Flucht aus Paris hatte Steel sich der Verkleidung entledigt und zeigte sich wieder in der Uniform des irischen Offiziers, auch wenn er keinen Uniformrock mehr trug.
Während der ersten Tage kam Steel recht gut voran und erfreute sich bester Laune, doch dann lahmte das Pferd. Steel war gezwungen, fünf Tage lang zu Fuß zu marschieren, ehe er ein neues Pferd erstand und eine weitere Woche unterwegs war. Schließlich hatte er die alliierten Linien erreicht, aber der Belagerungsring war so breit, dass es Steel noch einen ganzen Tag gekostet hatte, bis er endlich zu seiner Einheit gestoßen war.
Das war vergangene Nacht gewesen. Nun wurde Steel von einem schlimmen Kater geplagt, denn Captain Laurent, der Kommandeur der 2. Kompanie, hatte zur Feier von Steels Rückkehr die Korken knallen lassen. Zusätzlich war in der Regimentsmesse eine Menge Brandy geflossen.
Von Marlborough oder Hawkins hatte Steel noch nichts gehört, was ihn aber nicht allzu sehr wunderte. Denn während Steels Grenadiere, zusammen mit dem Rest von Farquharsons Foot, nördlich der Stadt in den Gräben des Belagerungsringes saßen, lagerten der Herzog und dessen »Familie« auf der südlichen Seite mitsamt der halben Armee. Die Streitkräfte von Prinz Eugen halfen im Norden aus, aber am südlichen Belagerungswall hatte Marlborough es während der letzten Woche auf eine offene Feldschlacht gegen Vendôme ankommen lassen, die auf beiden Seiten zu hohen Verlusten geführt hatte. Der französische Marschall hatte beschlossen, in diesem Gefecht nicht alles auf eine Karte zu setzen, und jetzt hatte Marlborough die Anstrengungen für die neue Angriffswelle verdoppelt.
Derweil fragte Steel sich, ob er je erfahren würde, was aus seiner Mission geworden war. Diese Ungewissheit drückte auf seine Stimmung. Hatte Charpentier, wie versprochen, jenes Schreiben weiterleiten können? Wie hatte Ludwig darauf reagiert? War Frieden überhaupt möglich? Diese Fragen und noch viel mehr gingen Steel durch den Kopf.
Er war froh, dass ihm bislang der stinkende Graben erspart geblieben war. Nun fragte er sich, wie die nächsten Truppenbewegungen aussehen mochten. Seine Männer würden bei jeder Attacke die Vorhut bilden, das stand fest. War die Aufgabe noch so aussichtslos, die Grenadiere würden im Sturmlauf auf jede Bresche zuhalten, die sich in den Mauern auftat. Sie würden wieder einmal ihr Leben riskieren für den Ruhm, die Ehre und die Beute. Steel wusste, dass die Grenadiere seine Leute waren und es immer sein würden. Er hatte sie zu einer Kampftruppe gemacht, und sie vertrauten ihm – zumindest diejenigen, die ihn schon länger kannten. Denn trotz geringer Verluste hatten sie viele neue Rekruten aufnehmen müssen.
Doch Steel wurde immer deutlicher bewusst, dass es ihm gar nicht um Ruhm und Reichtum ging. In Wahrheit sehnte er sich nach einem Leben mit Henrietta, nach einem Zuhause und einer Familie. Ein eigenartiger Gedanke für jemanden, der die letzten Jahre in ständiger Lebensgefahr auf den Schlachtfeldern Europas zugebracht hatte. Während dieser Zeit waren Steels Männer so etwas wie seine Familie gewesen, fast wie seine Kinder. Steel sah sich als Teil einer heiligen Bruderschaft. Niemand hatte je gewagt, ihn einen Feigling zu schimpfen – und niemand würde es je wagen –, aber im Augenblick empfand Steel es fast als Verrat an seinen Kameraden, dass er überhaupt darüber nachdachte, sein Leben nicht bis zum Ende des Krieges in den Dienst der Grenadiere zu stellen.
Dennoch, die Aussicht auf ein Leben in Frieden besaß eine eigene Faszination, selbst für einen Mann wie ihn, der sich immer für einen Mann des Krieges gehalten hatte. Womöglich war dies alles aber bloß eine ganz normale Reaktion
Weitere Kostenlose Bücher