Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
Teilen Flanderns ziemlich hoch, sodass der Graben an manchen Stellen nicht tiefer als vier Fuß war. Um die Soldaten dennoch zu schützen, hatte man Gabionen vor den Gräben aufgestellt: Weidenkörbe, die mit Erde und Steinen befüllt wurden. Dadurch erreichte die Grabenwehr eine zusätzliche Höhe von drei Fuß. Meistens genügte das, und die Soldaten hatten wenig Mühe, die Gegner zu empfangen, die einen Ausfall aus der belagerten Stadt wagten. Im Falle von Steel und den Grenadieren jedoch wurde den Männern oft ihre Größe zum Verhängnis, da sie mit ihren Grenadiersmützen auf einer Höhe mit den Brustwehren standen.
Vorsichtig trat Steel auf die Feuerkante im Graben und spähte über die Gabionen hinweg. Es war gut, dass er Vorsicht walten ließ. Denn in gerader Linie vor sich gewahrte er durch den Morgennebel ein orangerotes Aufflammen, gefolgt von weiteren Blitzen. Diesen Anblick kannte er nur zu gut. Er wusste, was jetzt kam.
Ohne lange zu zögern, sprang Steel von der Feuerkante, zog den Kopf ein und rief: »Kanonenfeuer! In Deckung!«
Mit einem Kreischen flog die erste Kugel in hohem Bogen über den Graben hinweg und senkte sich auf die hinteren Reihen der Belagerer; ein zweites und drittes Geschoss folgten, dann weitere Salven. Die Franzosen in der Zitadelle gaben an diesem Morgen ihre Antwort auf den Dauerbeschuss der Alliierten. Steel wartete, zählte bis zwanzig, richtete sich dann wieder auf und klopfte sich den Dreck von den Breeches. Er spürte Sergeant Slaughters Blick.
»Die scheinen sich auf uns einzuschießen, Sir, meint Ihr nicht auch? Vielleicht haben sie Euch gesehen.«
»Hört auf, mir zu schmeicheln, Jacob. Passt nicht zu Euch. Außerdem denke ich, dass die Kugeln wahllos fallen.«
»Da habt Ihr recht, Sir. Letztens hat es den armen Harrison erwischt. Armer Bursche. Die Kugel riss ihm glatt den Kopf ab. Ich musste seinen Uniformrock wegschmeißen, taugte nichts mehr. Eine Schande. Aber den hätte sowieso keiner der Jungs anziehen wollen. Harrison nahm’s mit der Sauberkeit nicht so genau.«
»Er stank drei Meilen gegen den Wind, was, Jacob? Das wolltet Ihr doch damit sagen, oder?«
»Ja, war bei ihm schlimmer als bei den meisten anderen, Sir. Es hieß immer: ›Schickt Harrison doch in die Kasematten. Der vertreibt die Ratten schneller als jeder Terrier.‹ Armer Teufel. Naja, den Geruch werden wir nicht vermissen. War ’ne wandelnde Kloake, sag ich Euch.«
Steel und Hansam mussten lachen. Williams rang sich ein Lächeln ab. Eine Art schwarzer Humor durchdrang wieder die Kompanie und alle anderen Einheiten der alliierten Armee, die seit Wochen in diesen Gräben ausharrten. Es war nicht bösartig gemeint. Harrison war tot, und nichts konnte ihn mehr zurückbringen, und wenn ein Scherz auf seine Kosten die Jungs ein bisschen zum Lachen brachte, was war dann schon dabei? Verwandte von Harrison würden es sowieso nicht hören. Wo auch immer die sein mochten.
Wieder lag ein Sirren in der Luft.
»Köpfe einziehen, Jungs! Es geht wieder los!«
Es war fast schon Routine geworden. Die Alliierten begannen mit ihrem Sperrfeuer noch vor Morgengrauen; die Geschützmannschaften schwitzen hinter den heißen Rohren und schickten so viele Kugeln wie möglich über die Mauern, um Verwirrung und Panik in den Reihen der Belagerten zu stiften. Doch dann, sobald die Kanonen schwiegen, antwortete der Feind. Die Franzosen fingen für gewöhnlich mit drei Salven an, ehe sie in einen beständigen, wenn auch etwas schwächeren Rhythmus fanden. Die Salven waren vorhersagbar, und für die alliierten Truppen war es möglich, rechtzeitig in Deckung zu gehen, sofern man den Rhythmus verinnerlicht hatte.
Doch Steel bereitete es Sorgen, dass die Franzosen diesen Beschuss über Stunden aufrechterhalten konnten. Wie stellten sie das an, zum Teufel? Woher hatten sie die Munition? Soweit er wusste, hatten die Alliierten einen festen Belagerungsring um Lille geschlossen. Eigentlich gab es keine Möglichkeit, Nachschub in die Stadt zu bringen. Entweder, vermutete Steel, verfügten die Franzosen über riesige unterirdische Depots, was bei Marschall Vaubans Befestigungsanlagen nicht verwunderlich wäre, oder im Grabensystem der Belagerer klaffte eine Lücke.
Steel und seine Begleiter gingen an dem Graben entlang und nahmen die Männer in Augenschein, die hinter der Brustwehr saßen. Die meisten hatten ihre verzierten Grenadiersmützen abgenommen, aus Angst, ein leichtes Ziel abzugeben. Stattdessen trugen sie
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