Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
auf die Widrigkeiten der gegenwärtigen Situation. Ein verzweifeltes Verlangen nach einer Vision für die Zukunft … eine Zukunft jenseits dieser Hölle aus gärendem Schlamm und totem Fleisch.
Steel wusste, dass seine Leute froh waren, ihren Offizier zurückzuhaben. Glücklicherweise hatten sie im Verlauf der letzten Wochen relativ wenig Verluste in den Reihen der Veteranen und Offiziere zu beklagen gehabt. Tatsächlich war es Farquharsons Regiment besser ergangen als manch einem anderen Teil der Truppe. Aber Steel wusste nur zu gut, wie schnell sich das ändern konnte.
Er zog sich die neuen Stiefel an, die er in Paris erworben hatte, und knöpfte seine Weste zu, als draußen vor seinem Zelt jemand hüstelte.
»Ja?«, rief Steel.
»Mr. Hansam und Mr. Williams wären dann so weit, Sir«, sagte Jacob Slaughter.
Bei seiner Rückkehr hatte ein Stapel Papierkram auf Steel gewartet, den er bislang weit von sich geschoben hatte. Nun stand die Inspektion der Kompanie an – für Steel ein willkommener Vorwand, die Schreibtischpflichten eines Kompanieführers hintanzustellen.
»Sehr gut, Jacob. Dann wollen wir mal.«
Seine erste Aufgabe bestand darin, festzustellen, welche Grenadiere in der vergangenen Nacht ihr Leben verloren hatten und wer sich von Matt Taylor, dem Apotheker der Kompanie, ärztlich versorgen ließ. Steel hoffte, dass keiner von seinen Jungs beim Feldarzt gelandet war: Mit den Knochensägen sah der Mann oft wie ein Schlachtermeister aus, der zertrümmerte Gliedmaßen amputierte und nur hoffen konnte, dass die Verwundeten die Prozedur überlebten.
Ein paar Namen fehlten auf der Kompanieliste; einige waren Steel vertraut, andere nicht. Mehrere Soldaten aus der Kompanie lagen derzeit draußen irgendwo in den Gräben, eine halbe Meile entfernt. Zwischen dem Belagerungsgraben und Lille erstreckte sich eine Ebene aus verkohlter Erde, versengt von Kanonenfeuer und übersät mit Leichen der Angreifer, die leider Gottes die oft überhastet geführten Attacken von Prinz Eugen nicht überlebt hatten. Was, fragte Steel sich, war Sinn und Zweck eines Befehls, der gute Soldaten aus dem Schutz der Gräben trieb und in die Nähe einer Befestigungsanlage brachte, deren Besatzung nur lange genug abzuwarten brauchte, ehe sie die Angreifer aus kurzer Distanz niedermähen konnte wie Sensen das reife Korn.
Für Steel war dies nicht die Art von Kriegsführung, die Erfolg brachte. In Zukunft würde die Armee sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Dann brauchte man vielleicht auch keine Gräben mehr, und die Männer müssten nicht mehr über Gabionen klettern und auf dem Weg zum Ruhm in den sicheren Tod stürmen.
Erneut nahm Steel die Ödnis vor Lille in sich auf, in der kein Baum oder Strauch mehr stand. Als Erstes hatten die Belagerer die Ebene abgeholzt und nach Fourage durchkämmt. Und was die Dragoner begonnen hatten, hatten die Geschützbatterien zu Ende geführt. Wenn dies alles vorüber war und man wieder die Äcker vor den Toren der Stadt bestellte, überlegte Steel, würden die Feldfrüchte bestimmt gut wachsen, denn der Boden war gedüngt mit Blut und Knochen. Das wäre das traurige Erbe dieser Region.
Steel blickte auf seine Stiefel und fragte sich, wie lange sie unter diesen Bedingungen halten mochten. Hoffentlich lange, dachte er, denn er fand sie außergewöhnlich bequem. Außerdem gäbe es in absehbarer Zeit wohl kaum eine Gelegenheit, neues Schuhwerk zu erstehen. Es sei denn, sie marschierten gen Paris und feierten Ludwigs Kapitulation mit einem Triumphzug.
Noch immer wusste Steel nicht, ob seine Mission, die ihn beinahe das Leben gekostet hatte, ein Erfolg oder ein Misserfolg gewesen war. Gleich nach seiner Rückkehr hatte er einen Laufburschen zum Herzog geschickt, mit der Nachricht, dass der Auftrag – zumindest die Übergabe des Briefes – erledigt sei. Doch bislang hatte er keine Antwort erhalten. Er hatte allerdings auch nicht damit gerechnet. Seine Rolle in dieser Angelegenheit war vermutlich vorüber. Deshalb wartete er einfach auf die nächste Anweisung und fragte sich, welchen Plan Marlborough noch aus dem Ärmel zaubern würde.
Wenn doch nur die verdammten Niederländer das Vorhaben, nach Paris zu marschieren, nicht vereitelt hätten! Steel wusste, dass es möglich gewesen wäre – und es wäre aussichtsreicher gewesen als diese Hölle vor Lille.
Nachdenklich blickte er auf den Boden des Grabens, in dem er bis zu den Knöcheln im Schlamm stand. Der Wasserspiegel stand in diesen
Weitere Kostenlose Bücher